Narzissmus als moderner Kult des Selbst

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Michelangelo Caravaggio, Narziß

 

 

Herausforderungen für die Gesellschaft

 

Narzissmus ist sowohl ein individuelles als auch ein kollektives Phänomen. Bestimmte Tendenzen in der Gesellschaft (Individualisierung, Säkularisierung, Erziehungsstile, Internet) führten zu einer deutlichen Zunahme narzisstischer Verhaltensweisen und Persönlichkeitszüge. In gewisser Weise braucht unsere postmoderne Gesellschaft erfolgreiche Narzissten, weil diese viele kreative Innovationen und grandiose Leistungen vollbringen. Die destruktive Kehrseite dieser Medaille ist die narzisstische Destruktivität und der maligne Narzissmus (Csef 1995). Dieser bricht dann aus der scheinbar „heilen Welt“ hervor, wenn sich ein narzisstischer Mensch gekränkt und gescheitert fühlt und sich an der Gesellschaft oder an anderen Menschen rächen will, um die intensiven Wut- und Hassgefühle auszuagieren. In der Gegenwart gibt es zahlreiche narzisstische Gewaltexzesse, die in den letzten zwei Jahrzehnten an Häufigkeit zuge-nommen haben (Schulmassaker, Amokläufe, Geisterfahrer, Amokflieger, narzisstische Beziehungstaten mit Mord und Totschlag). Sind diese negativen Folgen letztlich unvermeidbare Kollateralschäden einer narzisstischen Gesellschaft? Oder sollten wir gegensteuern, bei den Erziehungsstilen, beim Umgang mit dem Internet oder in allen Formen der Grandiosität, in der die Bewunderer um das goldene Kalb tanzen?

 

Quelle:  Herbert Csef, Leben wir in einer narzisstischen Gesellschaft? Internationale Zeitschrift für Philosophie and Psychosomatik  IZPP | Ausgabe 2/2015

 

http://www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe_2_2015/Csef_IZPP_2_2015.pdf

 


 

Erich Fromm, Selbstliebe

 

Nicht nur die anderen, sondern auch wir selbst sind das „Objekt“ unserer Gefühle und Haltungen. Zwischen der Ein-stellung zu uns selbst und der Einstellung anderen gegenüber besteht kein Widerspruch, sondern ein fundamentaler Zusammenhang. In bezug auf unser Problem heißt das: Liebe zu anderen und Liebe zu uns selbst ist keine Alternative. Vielmehr wird man eine sich selbst gegenüber liebevolle Haltung bei denjenigen feststellen, die zur Liebe zu anderen fähig sind. Im Prinzip ist Liebe unteilbar, soweit es den Zusammenhang zwischen anderen „Objekten“ und dem eigenen Ich betrifft. ― (1947a: Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie, in: Erich-Fromm-Gesamtausgabe (GA) Band II, S. 84.)

 

Sowohl in der scholastischen Philosophie wie in vielen anderen philosophischen Traditionen wird ganz deutlich zwischen dem Narzissmus bzw. dem Egozentrismus einerseits und der Selbstliebe andererseits unterschieden. Selbstliebe ist Liebe, und bei der Liebe macht es wenig Unterschied, wer das Objekt der Liebe ist; jeder ist selbst ein menschliches Wesen und deshalb Objekt der Liebe. Der Mensch muss eine bejahende, liebende Einstellung zu sich selbst haben.

Der egozentrische, narzisstische Mensch liebt sich in Wirklichkeit nicht, weshalb er gierig ist. Ganz allgemein gilt, dass nur der Mensch gierig ist, der unbefriedigt ist.

 

(1991d [1974]: Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse, in: Erich-Fromm-Gesamtausgabe (GA) Band XII, S. 361.)

 


 

Selbstliebe und Selbstsucht

 

Eine letzte Frage harrt noch ihrer Erörterung. Vorausgesetzt, dass Liebe zu  sich selbst und Liebe zu anderen korres-pondierende Größen sind, wie erklärt sich dann jene Art von „Selbstsucht“, die offensichtlich das genaue  Gegenteil jedes echten Interesses an einem anderen Menschen ist? Der Selbstsüchtige ist nur an sich selbst interessiert, will alles nur für sich selbst, ist unfähig, irgendetwas gerne zu geben, und stattdessen immer ängstlich darauf bedacht zu nehmen. Seine Umwelt betrachtet er nur unter der Perspektive, was sich alles für seine Zwecke aus ihr herausholen lässt. Ihm geht jedes Interesse für die Bedürfnisse anderer ab, und er kann keinerlei Achtung vor deren Würde und Integrität aufbringen. Er sieht nur sich selbst; alles und jedes beurteilt er vom Gesichtspunkt des Nutzens für ihn. Er ist zutiefst liebesunfähig.

 

Diese Selbstsucht kann offen zutage treten oder vielfältig versteckt sein hinter allen möglichen selbstlosen Gesten. Unter dynamischer Betrachtungsweise handelt es sich dennoch immer um Selbstsucht. Es scheint bei diesem Persönlichkeitstypus aber offensichtlich so zu sein, dass es einen Widerspruch zwischen dem enormen Interesse für sich selbst und dem Mangel an Beachtung der anderen gibt. Ist dies nicht der Beweis dafür,  dass es in Wirklichkeit eine Alternative gibt: Jemand interessiert sich entweder für sich oder für andere? Dies wäre mit Sicherheit so, wenn Selbstsucht und Selbstliebe identisch wären. Aber gerade darin besteht der Fehlschluss, der hinsichtlich unseres Problems zu so vielen falschen Folgerungen geführt hat. Selbstsucht und Selbstliebe sind weit davon entfernt, identisch zu sein; in Wirklichkeit sind sie Gegensätze.

 

Selbstsucht ist, wie schon das Wort „Sucht“ andeutet, eine Art Gier. Wie bei allen Formen von Gier ist sie unersättlich, wobei das Unersättliche eine Folge einer beständigen Unbefriedigtheit ist. Die Gier ist ein Fass ohne Boden: Der Mensch erschöpft sich in einem endlosen Bemühen, sein Bedürfnis zu befriedigen, und erreicht doch nie eine Befriedigung. Der entscheidende Punkt zeigt sich bei näherer Betrachtung: Obwohl der Selbstsüchtige immer ängstlich mit sich selbst beschäftigt ist, ist er doch nie zufrieden, pausenlos in Unruhe, andauernd von der Angst getrieben, nicht genug zu bekommen, etwas zu versäumen oder einer Sache beraubt zu  werden. Er ist voll von brennendem Neid, dass jemand mehr haben könnte als er.

 

Schauen wir noch etwas genauer hin und beziehen wir die unbewusste Dynamik mit ein, dann erkennen wir, dass der selbstsüchtige Mensch ganz und gar nicht von sich begeistert ist und sich überhaupt nicht leiden kann. Das Rätsel dieses scheinbaren Widerspruchs lässt sich leicht lösen. Die Selbstsucht wurzelt in eben diesem Mangel an Liebe zu sich selbst. Wer sich selbst nicht lieben und annehmen kann, lebt bezüglich seines Selbst in einer ständigen Angst. Er spürt nicht die innere Sicherheit, die es nur aufgrund echter Liebe und Bejahung gibt. Er muss immer mit sich beschäftigt sein und  ist begierig, alles für sich zu bekommen, da seinem Selbst von Grund auf  Sicherheit und Zufriedenheit fehlen.

 

Was für den Selbstsüchtigen gilt, gilt auch für den narzisstischen Menschen. Dessen allgegenwärtiges Interesse ist es weniger, sich Dinge anzueignen, als vielmehr, sich selbst zu bewundern. Oberflächlich betrachtet scheinen diese Menschen in sich selbst verliebt zu sein; in Wirklichkeit aber können sie sich nicht leiden, und mit ihrem Narzissmus wie mit der Selbstsucht kompensieren sie einen grundlegenden Mangel an Selbstliebe. Freud hat betont, dass der Narzisst seine Liebe vom anderen zurückzieht und auf die eigene Person richtet. Der erste Teil dieser Behauptung ist richtig, der zweite ist ein Trugschluss. Er liebt weder die anderen noch sich selbst.

 

Der Kompensationsmechanismus des Selbstsüchtigen und des Narzissten ist leichter zu verstehen, wenn wir ihn mit dem übermäßigen Interesse an anderen und mit der Überfürsorglichkeit für andere vergleichen. Ob es sich um eine überfürsorgliche Mutter oder einen übermäßig interessierten Gatten handelt, bei näherer Betrachtung zeigt sich immer das eine: Die Betreffenden glauben zwar bewusst, dass sie besonders lieb zu ihrem Kind oder Gatten sind, in Wirklichkeit aber zeigt sich eine tief verdrängte Feindseligkeit gerade gegenüber jener Person, für die sie sich so übermäßig engagieren. Sie interessieren sich im Übermaß nicht nur, weil sie einen Mangel an Liebe, sondern auch eine bestehende Feindseligkeit kompensieren müssen.

 

Bei der Selbstsucht gibt es noch ein weiteres Problem. Ist es nicht ein ganz besonderer Ausdruck von Selbstlosigkeit, wenn sich jemand selbst opfert? Und ist es andererseits vorstellbar, dass jemand, der sich selbst liebt, ein solches äußerstes Opfer erbringt? Die Antwort hängt völlig davon ab, um welche Art von Opfer es sich handelt. Da gibt es einmal das Opfer, wie es in jüngster Zeit insbesondere von der faschistischen Philosophie gepriesen wurde. Der Einzelne solle sich für etwas, das außerhalb von ihm, das größer und wertvoller ist – etwa den Führer, die Rasse – opfern. Der 

Einzelne zählt nichts und findet erst durch diesen Akt der Selbstvernichtung zugunsten einer höheren Macht seine Bestimmung. Bei diesem Verständnis ist die Selbstaufopferung für etwas oder jemanden, der größer als man selbst ist, die größte erreichbare Tugend. Wenn Selbstliebe und Nächstenliebe eine grundsätzliche Bejahung und Achtung des Selbst sowie des anderen bedeuten, dann steht diese Opfervorstellung in scharfem Kontrast zur Selbstliebe.

 

Es gibt aber noch eine andere Art von Opfer: Wenn die Umstände es erfordern, das eigene Leben für den Erhalt einer Idee, die zu einem Teil von einem selbst geworden ist, oder für eine Person, die man liebt, hinzugeben, dann kann das Opfer der äußerste Ausdruck von Selbstbejahung sein. Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine Bejahung des eigenen physischen Lebens, sondern des Selbst im Sinne des Kerns der eigenen Gesamtpersönlichkeit. In diesem Fall ist das Opfer selbst nicht das Ziel, sondern nur der Preis, der für die Realisierung und Bejahung des eigenen Selbst bezahlt werden muss. Hat im letzteren Fall das Opfer seinen Grund in der Selbstbejahung, so wurzelt das – man könnte sagen – masochistische Opfer im Mangel an Selbstachtung und Selbstliebe und ist seinem Wesen nach nihilistisch.

 

Das Problem der Selbstsucht hat eine besondere Relevanz für die Psychotherapie. Der Neurotiker ist oft dahingehend selbstsüchtig, dass er in seiner Beziehung zu anderen blockiert oder in Bezug zu sich selbst überängstlich ist. Dies verwundert nicht, denn neurotisch zu sein bedeutet, dass die Bildung eines starken Selbst zu keinem erfolgreichen Abschluss gekommen ist. Normal zu sein besagt wiederum gewiss nicht, dass es dazu kam. Bei der Mehrheit der gut angepassten Menschen bedeutet Normalität nur, dass sie ihr eigenes Selbst bereits im frühen Alter verloren und vollständig durch ein gesellschaftliches Selbst ersetzt haben, das ihnen von der Gesellschaft angeboten wurde. Für sie gibt es keinen neurotischen Konflikt, weil ihr Selbst – und deshalb auch die Diskrepanz zwischen ihrem Selbst und der Außenwelt – verschwunden ist.

 

Oft sind neurotische Menschen besonders selbstlos. Es fehlt ihnen an Selbstbehauptung, und sie sind unfähig, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Die Gründe für diese Selbstlosigkeit sind im wesentlichen die gleichen wie für die Selbstsucht. Es herrscht praktisch immer ein Mangel an Selbstliebe. Ohne Selbstliebe aber kann niemand gesund werden. Wenn der Neurotiker gesund wird, dann wird er nicht normal im Sinne einer Anpassung an das gesellschaft-liche Selbst. Vielmehr gelingt es ihm, sein Selbst, das niemals ganz verloren gegangen war und für dessen Erhalt er mit seinen neurotischen Symptomen gekämpft hat, zu verwirklichen. Von daher kann eine Theorie, die wie die Freudsche Narzissmustheorie gesellschaftliche Verhaltensmuster rationalisiert sowie die Selbstliebe denunziert und mit Selbst-sucht identifiziert, therapeutisch verheerende Wirkungen haben. Sie verstärkt die Tabuisierung der Selbstliebe.

Bei einer solchen Therapie werden gerade dann „positive“ Ergebnisse erzielt, wenn es ihr nicht darum geht, dem Betreffenden dabei zu helfen, er selbst zu werden, also frei, spontan und kreativ – die klassischen Eigenschaften von Künstlern. Solche Therapien führen stattdessen dazu, den Kampf um das eigene Selbst aufzugeben und sich an die kulturellen Muster friedlich und ohne den Lärm einer Neurose anzupassen.

 

In der heutigen Zeit wächst die Neigung, den Einzelnen zu einem ohnmächtigen Atom zu machen. Die autoritären Systeme versuchen, das  Individuum zu einem willenlosen und gefühllosen Instrument in den Händen der Regierenden zu degradieren. Sie zerschlagen es durch Terror, Zynismus, Staatsmacht, Großdemonstrationen, fanatische Redner und alle möglichen anderen Mittel der Suggestion. Fühlt der Mensch sich schließlich zu schwach, um noch auf eigenen Füßen zu stehen, dann wird ihm durch das Angebot aufgeholfen, an der Stärke und Glorie des größeren Ganzen, dessen ohnmächtiger Teil er ist, zu partizipieren. Die autoritäre Propaganda behauptet, das Individuum des demokratischen Staates sei selbstsüchtig und müsse daher selbstlos und sozial gesinnt werden. Dies ist eine Lüge. Der Nazismus ersetzte die äußerst brutale Selbstsucht der herrschenden Bürokratie und des Staates durch die Selbstsucht des durchschnittlichen Menschen. Der Ruf nach Selbstlosigkeit ist die Waffe, mit der der normale Bürger dazu gebracht werden soll, sich noch mehr zu unterwerfen und aufzugeben.

 

Die Kritik an der demokratischen Gesellschaft sollte nicht in erster Linie lauten, dass die Menschen zu selbstsüchtig seien; dies ist zwar so, aber es ist nur eine Folge von etwas anderem. Der Demokratie ist es nicht gelungen, den Einzelnen dahingehend zu bestärken, dass er sich selbst lieben lernt und so ein tiefes Gespür für die Bejahung seines eigenen Selbst mit allen seinen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten entwickelt. Ein puritanisch-protestantisches Erbe der Selbstverleugnung sowie der Zwang zur Unterordnung des Einzelnen unter die Erfordernisse der Produktion und des Profits haben die Voraussetzungen für das Aufkommen des Faschismus geschaffen. Die Bereitschaft, sich zu unterwerfen, der pervertierte Mut, der sich von Krieg und Selbstvernichtung anziehen lässt: Sie sind nur möglich auf der Grundlage einer – weitgehend unbewussten –  Verzweiflung, die durch martiale Gesänge und Rufe nach dem Führer unterdrückt wird.

 

Der Mensch, der aufgehört hat, sich selbst zu lieben, ist zum Töten wie auch zum Sterben bereit. Wenn unsere [ameri-kanische] Kultur nicht auch eine faschistische werden soll, dann gilt es zu erkennen, dass unser Problem nicht lautet, dass es zuviel Selbstsucht gibt, sondern dass es keine Selbstliebe gibt. Das Ziel muss sein, jene Voraussetzungen zu schaffen, die es dem Einzelnen möglich machen, seine Freiheit nicht nur in einem formalen Sinne zu verwirklichen, sondern indem er seine ganze Persönlichkeit – mit seinen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Eigenschaften – zur Entfaltung bringt. Diese Freiheit besagt nicht Herrschaft des einen Teils der Persönlichkeit über einen anderen – des Gewissens über die Natur, des Über-Ichs über das Es. Sie bedeutet die Integration der gesamten Persönlichkeit und das tatsächliche Ausdrücken aller Möglichkeiten dieses ganz gewordenen Menschen.

 

Erich Fromm, Selbstsucht und Selbstliebe, S. 33-37

 


 

Erich Fromm, Selbstsucht und Selbstliebe (Selfishness and Self-Love. 1939b)

 

Als E-Book übersetzt, herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk

Copyright © 1994 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm.

 

http://irwish.de/PDF/Fromm/Fromm-Selbstsucht_und_Selbstliebe.pdf

 

Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, München: Steinhausen 1980

 

http://www.irwish.de/PDF/Lasch-Das_Zeitalter_des_Narzissmus.pdf

 

Herbert Csef, Leben wir in einer narzisstischen Gesellschaft?

Internationale Zeitschrift für Philosophie and Psychosomatik - IZPP Ausgabe 2/2015

 

http://www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe_2_2015/Csef_IZPP_2_2015.pdf

 

Paul C. Vitz, The Problem with Self-Esteem (CERC - Catholic Education Resource Center)

 

A talk given by Paul C. Vitz to an audience of priests in New Westminster, British Columbia on September 29, 1995.

 

https://www.catholiceducation.org/en/education/catholic-contributions/the-problem-with-self-esteem.html

 

Heinz-Peter Röhr, Narzissmus. Das innere Gefängnis, München: DTV 2005

 

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung haben ein krankhaftes Bedürfnis nach Bewunderung: Männer stellen sich häufig rücksichtslos in den Mittelpunkt, Frauen versuchen oft, anderen alles recht zu machen.

Der Autor veranschaulicht Entstehung, Verlauf und Heilungsmöglichkeiten dieses verbreiteten Leidens.

 


 

Ursachen für die Häufigkeitszunahme narzisstischer Phänomene

 

Twenge und Campbell nennen vier Faktoren, die sie für diese Entwicklung verantwortlich machen:

 

1. Die Entwicklung vom autoritären zu einem gewährenden und verwöhnenden Erziehungsstil: Die heutigen Kinder würden zu viel gelobt und bewundert. Von sinnvollen Forderungen, Herausforderungen und Kritik werden sie gezielt verschont. Die Autoren bringen dies wie folgt auf den Punkt: „Wir geben unseren Kindern zu viel und verlangen zu wenig von ihnen.“

 

2. Der große Einfluss von Medien, Boulevard-Presse, Fernsehen, Werbung und Filmen: „Prominent sein“ oder „ein Star sein“ wird extrem überbewertet und gegenüber anderen Werten bevorzugt. Dies erkläre auch die Gier oder Sucht nach Auftritten in Talk-Shows im Fernsehen.

 

3. Die Entwicklung des Internets: Dies ist nach Ansicht der Autoren der einflussreichste Faktor. Das Internet sei der ideale Nährboden für die Entwicklung von Narzissmus. Durch soziale Netzwerke wie Facebook, durch Twitter oder Instagram werden ungeheure Mengen von persönlichen Nachrichten oder Bilder verbreitet. Es gehe vorrangig um Selbstdarstellung, um Sehen und Gesehen-Werden. Die schnelle Verbreitung von „Selfies“ – selbstaufgenommene Portraits, die via Smartphone im Internet verbreitet werden – unterstreicht diese Tendenz.

 

4. Die extrem leichte Zugänglichkeit zu Krediten über Kreditkarten. Viele Menschen seien in ihrem Realitätssinn getrübt, weil sie über Kreditkarten leicht an verfügbares Geld kommen und sich schier wahllos mit Statussymbolen eindecken können, um in den Augen der anderen ihren Selbstwert und damit den Narzissmus zu erhöhen. Die Betroffenen leben dadurch über ihre Verhältnisse und bewegen sich so in einer Selbsttäuschung und Scheinwelt. So lange die Party läuft und die Musik spielt, scheint alles „super“. Wenn aber die Bank „den Stecker zieht“ und die Kreditkarte sperrt, ist „game over“. Dann folgen Ernüchterung und Katerstimmung. Die bislang verdrängte Realität bricht ein. Schuldnerberatung oder Gerichte erzwingen dann die bislang vermiedene Realitätswahrnehmung.

 

Quelle: Herbert Csef, Leben wir in einer narzisstischen Gesellschaft? Internationale Zeitschrift für Philosophie and Psychosomatik - IZPP Ausgabe 2/2015

 

http://www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe_2_2015/Csef_IZPP_2_2015.pdf

 



 

Selbstbestätigung statt Dialog im Internet

 

idowa, 16.08.2020

 

Nun sind ja Begleiterscheinungen wie Hetze, „Hate-Speech“, Sensationsgier und mangelndes Mitgefühl mittlerweile weit verbreitete Phänomene im Internet. Gab es das Ihrer Ansicht nach in Zeiten vor Social Media auch schon in diesem Ausmaß? Ich denke da beispielsweise an die obligatorischen Stammtischrunden im Wirtshaus, wie man sie früher ja noch kannte.

 

Prof. Dr. Hirschfelder: Im analogen Zeitalter haben Menschen stärker miteinander gesprochen und der Stammtisch ist dabei im Idealfall eine Institution, wo Leute sich zwar über Inhalte streiten, aber eben nicht komplett zerstreiten. Wohingegen wir im Bereich Social Media häufig die Situation haben, dass sich dort Menschen bewegen, um Bestätigung für ihre Meinung zu bekommen. Sobald dort aber jemand anderer Meinung ist, löst das bei ihnen Aggressionen aus. Ich denke da zum Beispiel an Themen wie Tierhaltung oder Veganismus, wo kaum ein Dialog stattfindet, sondern hauptsächlich Anfeindungen.

 

Im Internet auf der Suche nach Selbstbestätigung

 

Demnach geht es primär eigentlich gar nicht mehr um einen Dialog?

 

Prof. Dr. Hirschfelder: Wenn man sich bestimmte Plattformen im Internet ansieht, dann merkt man, dass sich dort viele lediglich in ihren Meinungen bestärken wollen. Sie bilden eine Art Filterblase. Und als Resultat dieser permanenten Selbstbestätigungen werden die Menschen zunehmend weniger offen für einen Dialog.

 

Aber sind verschiedene Meinungen nicht eigentlich die Quintessenz einer funktionierenden Gesellschaft?

 

Prof. Dr. Hirschfelder: Unsere Gesellschaft lebt davon, dass wir mündige Bürger haben, die eigene Meinungen haben. Aber Meinung entsteht eben nur im Dialog. Und auf vielen Social Media-Plattformen findet kein Dialog statt, sondern meist nur noch ein Monolog.

 

Geht es dabei also vorwiegend um Selbstverwirklichung?

 

Prof. Dr. Hirschfelder: Naja, Äußerungen in Sozialen Netzwerken sind häufig auch soziale Markierungen der Menschen, die das grundsätzliche Bedürfnis haben, sich mitzuteilen. Das ist eine anthropologische Grundkonstante. In unserer Gegenwart haben wir aber immer weniger die Möglichkeit, uns mitzuteilen und die Corona-Krise verstärkt das sicherlich nochmal.

 

Inwiefern verstärkt das die Corona-Krise?

 

Prof. Dr. Hirschfelder: Weil etwa die Institution Wirtshaus an Bedeutung verliert, weil der Medienkonsum zunimmt und weil wir Menschenansammlungen meiden. Und wenn ich mich in einer Gesellschaft nicht mehr unterhalten kann, dann ziehe ich mich eben in einen vermeintlichen virtuellen Dialog zurück. In Wirklichkeit ist es aber kein Dialog, sondern ein Statement eines Einzelnen. Allerdings entsteht bei diesen Menschen der falsche Eindruck, sie hätten sich durch ihren Kommentar den Mitmenschen mitgeteilt.

 

Man ist also gar nicht mehr bereit, andere Meinungen zuzulassen? Geschweige denn, sich davon überzeugen zu lassen.

 

Prof. Dr. Hirschfelder: Ja, das beobachten wir zumindest in den Feldern, die ich in der Forschung überblicken kann.

 

https://www.idowa.de/inhalt.kulturwissenschaftler-im-interview-die-rassismus-debatte-geht-mir-zu-weit-page1.4014bd13-0302-4f71-99a9-dad0416dac67.html

 


 

Auf der Jagd nach Selbstbestätigung

 

Menschen brauchen soziale Anerkennung, sonst gehen sie ein. Genau dieses Bedürfnis bedienen soziale Netz-werke. Studien zeigen: Jugendliche schütten vor allem dann Dopamin aus, wenn jemand auf ihre Beiträge reagiert hat - egal, ob positiv oder negativ. Wer von heute auf morgen mit seiner Nutzung von sozialen Netz-werken aufhört, riskiert, unglücklich zu werden.

 

Sven Lüüs, SZ - 22. Februar 2019

 

Apps von Lieferservices bieten bis spät abends Speisen aus verschiedenen Restaurants an. Ob der Asiate, der die leckeren Nudeln mit Erdnusssoße macht, eine Straße weiter sein Restaurant hat oder am anderen Ende der Stadt - es spielt keine Rolle. Hauptsache, der hungrige Nutzer der Lieferapp, der momentan überhaupt nicht gut drauf ist, muss nicht vor die Tür gehen. Die Digitalisierung macht's möglich.

 

So wie es Lieferservices erleichtern, den Hunger bequem zu stillen, stillen soziale Netzwerke auch das Grundbedürfnis nach sozialer Anerkennung. Bestätigung von anderen sei "elementar fürs Menschsein", sagt Sozialpsychologe Hans-Jürgen Wirth von der Universität Frankfurt. Man werde nur durch einen sozialen Austausch mit anderen zum Menschen. Wenn Menschen keine Selbstbestätigung bekommen, gehen sie ein. Wäre das nicht so, wären auch soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Twitter nicht so erfolgreich. Sie sorgen dafür, dass ihre Nutzer Glückshormone ausschütten.

 

"Die Menschen, die soziale Netzwerke entwickeln, wissen das", sagt Psychiater Joachim Bauer von der internationalen Universität für Psychoanalyse in Berlin. Soziale Netzwerke würden schon entsprechend entwickelt, um diesen Hunger nach Anerkennung zu bedienen.

 

Die Befriedigung dieses Bedürfnisses, für das eigene Leben von anderen Nutzern digital Zustimmung zu bekommen, nimmt mittlerweile teils bizarre Ausmaße an. Auf Instagram werden vor allem Fotos miteinander geteilt. Nun vermietet ein Unternehmen aus Moskau Privatjets an Instagram-Poser, damit diese im Jet Fotos schießen können. Für zwei Stunden kann man den Jet mieten. Tatsächlich steht der dann nur herum; auf den Fotos, die natürlich im Inneren des Flugzeugs entstehen, macht es aber keinen Unterschied, ob der Jet auch fliegt. Wichtig ist dann nur die Champagner-flasche im Bild.

 

Studien, in denen die Hirnaktivitäten von Jugendlichen gemessen wurden, haben auch gezeigt, dass Nutzer das stimulierende Glückshormon Dopamin schon von dem Zeitpunkt an ausschütten, zu dem sie sich im sozialen Netzwerk anmelden. Die Gehirne der getesteten Jugendlichen reagieren also nach dem Motto: "Das Spiel beginnt!". Wenn später andere Nutzer signalisieren, dass ihnen gefällt, was die Person in den sozialen Netzwerken teilt, werden weitere Glückshormone ausgeschüttet. Die spornen an, noch mehr zu posten: "Das ist wie bei Fixern", sagt Bauer. Und es sei wie in einen Raum zu kommen, in dem man von allen gemocht wird.

 

Auch negative Rückmeldungen der anderen Nutzer regen das Gehirn dazu an, weiterzumachen. Man wolle die schlechten Rückmeldungen dann mit guten wieder ausgleichen. Der Nutzer braucht also nur Reaktionen, egal was für welche.

 

Kalter Entzug kann Angst auslösen

 

Wer von heute auf morgen mit seiner Nutzung von sozialen Netzwerken aufhört, riskiert, unglücklich zu werden, zumindest kurz nach dem Ausstieg. Auch das ist laut Bauer wie bei Fixern: Auf den Entzug von sozialen Netzwerken könnten Angst und Aggressionen folgen.

 

Aber warum abonnieren so viele Menschen das, was andere aus ihrem Leben teilen? Das sei Gruppenbildung, sagt Bauer. Wer eine Person oder eine Marke auf Instagram abonniert hat, sieht, wer das auch getan hat. Dieses Abonnieren wird auf Facebook auch als "gefällt mir" bezeichnet. Die gleichen Interessen zu haben, dass anderen das Gleiche gefällt wie dem jeweiligen Nutzer selbst, gibt dem Nutzer ein wohliges Zugehörigkeitsgefühl. Auch das aktiviere das Belohnungssystem im Gehirn und mache glücklich, sagt Bauer.

 

Die Instagram-Nutzer geizen auch nicht mit Bestätigung für andere: Mehr als eine Milliarde Menschen nutzen das soziale Netzwerk. In ihren öffentlichen Kommentaren haben sie mehr als 14 Milliarden mal Posts von anderen mit einem Herz-Symbol kommentiert.

 

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/instagram-facebook-psychologie-1.4341194