Drogenpolitik

 

 

 

Wenn jemand in Deutschland meint, dass wir von der niederländischen Drogenpolitik lernen könnten,

dann denken viele Leute immer noch an verträumte Hippies und an Marihuana-Rauchen in Coffeeshops.

Das ist nicht nur ein Märchen aus alten Zeiten, sondern so realitätsfremd, als hätte man gerade gekifft.

Heute sollte man eher an die marrokanische und türkische Drogenmafia, an brutale Bandenkriminalität

und an einen endlosen Krieg zwischen verschiedenen Banden um den Profit aus dem Kokainhandel denken.

 


 

Die Drogenmafia in den Niederlanden ist eine direkte Folge der Migration

 

Banden von marokkanischen Emigranten beherrschen in den Niederlanden den Kokainhandel und verüben brutale Morde. Die lockere Drogenpolitik hat diese Entwicklung begünstigt.

 

Leon de Winter, Niederländischer Schriftsteller, NZZ - 01.12.2020

 

Die Niederlande sind ein Einwanderungsland. Das ist eine bemerkenswerte Tatsache. Eines der am dichtesten bevöl-kerten Länder der Welt hat keine Ahnung, wie es das Bevölkerungswachstum bremsen soll, das in den vergangenen fünfzig Jahren nicht nur zum Wohl des Landes beigetragen hat. Eine solche Verlangsamung der Zunahme müsste einer Absicht folgen, die wiederum auf einer Idee gründet vom Nationalstaat, von seiner kulturellen Autonomie und von dem, was das Niederländische ausmacht.

 

Das gelingt im heutigen ideologischen Klima nicht mehr. Wie in manchen anderen westlichen Ländern wurden Vor-stellungen von nationaler Eigenheit in die Sphären sportlicher Aktivitäten verbannt. Hier kann man sich noch immer zur emotionalen Identifikation mit dem eigenen Land bekennen, hier verschwinden ethnische Unterschiede zwischen den Teilnehmern. Während eines Fussballturniers können wir leicht Schweizer oder Niederländer sein. Ausserhalb des Sports wird es lästig.

 

Ein Kulturschock kosmischen Ausmasses

 

Die Niederlande haben 17,5 Millionen Einwohner, davon haben gut zehn Prozent einen «nichtwestlichen Migrations-hintergrund». Fast 420 000 Menschen stammen aus Marokko. Sie kommen mehrheitlich aus dem Rifgebirge und sind sogenannte Rifkabylen. Sie sprechen nicht Arabisch, sondern die Sprache der Berber, die bis vor kurzem in Marokko nicht anerkannt wurde.

 

Diese Einwanderer hatten mehrheitlich eine dürftige Schulbildung, viele waren sogar Analphabeten. In ihrem Herkunfts-gebiet gab es keine Universität, keine Buchhandlung, kein gebildetes Bürgertum. Wo sie aufwuchsen, herrschten Armut, Rückständigkeit und die karge Tradition agrarischer, islamischer Gesellschaften. Ihren Stolz bezogen sie aus den längst vergangenen Zeiten der ruhmreichen nordafrikanischen Berbervölker. Die Übersiedlung in die Niederlande, wo nach dem Zweiten Weltkrieg Wohlstand und Säkularisierung enorm zunahmen, muss ein Kulturschock kosmischen Aus-masses gewesen sein.

 

In den Elternhäusern blieb die Herkunftskultur erhalten und wurde zugleich aus der Ferne romantisiert, doch draussen auf der Strasse lernte die zweite Generation die Freiheiten der postchristlichen, säkularen Umgebung schätzen. Viele Emigrantenkinder wuchsen ohne besondere Identität auf und sahen, wie ihre Eltern im Verlangen nach emotionaler Verwurzelung immer stärker Glauben und Tradition des zurückgelassenen Dorfes annahmen.

 

Fotografien der ankommenden Arbeitsmigranten zeigen junge bartlose Männer im Anzug, mit weissem Hemd und Krawatte. Als sie nach einem Erwerbsleben in der niederländischen Industrie – wo sie häufig Schwerarbeit verrichteten, für die sich die Niederländer zu gut waren – in Rente gingen, wurden viele religiös. Sie liessen sich Bärte wachsen, trugen die Kleider ihrer Vorfahren und gingen regelmässig in die Moschee. Und ihre Kinder und Kindeskinder?

 

Zwischen den Kulturen

 

Einem Drittel der Nachkommen gelangen Anpassung und Integration, die für eine Teilnahme am gesellschaftlichen Zusammenleben in den Niederlanden notwendig waren. Ein zweites Drittel tat sich schwer mit Integration und Disziplin, Voraussetzung für eine angemessene Bildung, und brauchte mehr Zeit.

 

Und ein letztes Drittel verharrt in einer Art Identitätskrise. Die Kriminalität unter den Jüngeren in dieser Gruppe – fast ausschliesslich Männer, die Mädchen verhalten sich anders – ist weit verbreitet. Sie grenzen sich gegenüber der Mehrheitskultur ab. Sie verlassen die Schule vorzeitig, geben vor, tiefgläubig zu sein, rauchen aber, trinken und haben ausserehelichen Sex. Ein kleiner Teil dieser Gruppe schliesslich landet in der Welt des schweren, organisierten Verbrechens. Und das heisst: Sie gründen Banden, die den Drogenhandel kontrollieren.

 

Die Niederlande haben stolze Welthäfen in Amsterdam und Rotterdam und ausserdem noch eine stattliche Anzahl kleinerer Häfen. Es besteht auch eine lange Tradition des Drogenhandels. In den Chinatowns der beiden Hafenstädte wird seit je Opium geraucht. In den sechziger Jahren wurden Marihuana und Haschisch in Künstlerkreisen populär. Später verbreiteten sich am Rand der Gesellschaft Kokain und Heroin.

 

Jeder Junkie trug eine Brechstange

 

Beschaffungskriminalität wurde eine alltägliche Erscheinung. In Amsterdam konnte kein Fahrrad bedenkenlos an einen Laternenpfahl gekettet werden. Jeder Junkie trug eine Brechstange auf sich, um Schlösser zu knacken. Einbrüche in Wohnungen und Autos waren an der Tagesordnung. Wie auch anderswo in der westlichen Welt wurde der «war on drugs» ausgerufen, der, wie wir nun wissen, nicht zu gewinnen war.

 

Die Niederlande sind ein pragmatisches Land und dachten sich einen Trick aus. Wir teilten die Drogen in weiche und harte ein und taten so, als würden sich auch die Schmuggler und Händler zuverlässig an diese künstliche Unterschei-dung halten. Wir führten eine Toleranzpolitik ein: Der Verkauf von weichen Drogen wurde geduldet, der Handel aber blieb verboten.

 

Es wurden Läden eröffnet, die man Coffeeshops nannte. Ohne von den Behörden behelligt zu werden, verkaufte man hier Marihuana. Doch Einfuhr und Handel blieben illegal. Fragen Sie nicht nach der Logik. Es gibt keine. Es war eine Verzweiflungstat, die einigermassen Ruhe und Ordnung wiederherstellte, aber nicht verhindern konnte, dass kriminelle Netzwerke gigantische Berge von Banknoten anhäuften.

 

Mit dem Aufkommen der Coffeeshops entwickelte sich in den Niederlanden ein lockerer Umgang mit Drogen, zugleich verschwanden dank grosszügig aufgesetzten Hilfsprogrammen die schwer Drogensüchtigen aus dem Strassenbild. Kokain wurde zur bevorzugten Partydroge. Seit vielen Jahren finden Chemiker in Amsterdams Abwässern, die geklärt und rezykliert werden (die Niederländer sind Meister in der Wiederaufbereitung von Wasser), die Spuren eines enormen Kokainkonsums.

 

Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Übernahme des Drogengeschäfts durch Marokkaner waren ideal. In den Niederlanden, in Belgien, Frankreich und im Herkunftsland bestanden familiäre und freundschaftliche Netzwerke mit stark ausgeprägter Loyalität. Die schlausten und unternehmungsfreudigsten jungen Marokkaner witterten ihre Chance. Vermögen lagen vor ihren Füssen. Mitunter mussten andere Banden ausgeschaltet werden, etwa die türkischen, wer aber am rücksichtslosesten auftreten, wer am gewalttätigsten sein konnte, den erwartete ein Leben in Wohlstand, wie man es nur von arabischen Ölscheichs kennt.

 

Ruchloser Bandenführer

 

Die «mocromaffia» wird geboren. «Mocro» heissen im Slang die Marokkaner. Doch die Drogenmafia ist keine ausschliesslich marokkanische Angelegenheit. Auch Niederländer sind darin aktiv, ebenso die Nachkommen der Einwanderer aus den karibischen Kolonien. Wenn es sein muss, bekriegen sie sich gegenseitig, wenn etwa im Hafen eine Ladung Kokain verschwindet. International bekannt wurde der Begriff «mocromaffia» durch den berüchtigtsten Mafiaboss, Ridouan Taghi, auch «Der Kleine» genannt.

 

Taghi ist kein Nachkomme von Emigranten. Er wurde in Marokko in einer an das Rifgebirge angrenzenden Stadt geboren. Mit drei Jahren kam er 1980 in die Niederlande und wuchs im Herzen des Landes in Vianen auf, einer Kleinstadt mit einem pittoresken Zentrum. Sie atmet den Stolz ihrer freien Bürger, die seit dem Mittelalter die sicheren und wohlhabenden Niederlande aufgebaut haben.

 

Mit fünfzehn zum ersten Mal verurteilt

 

Schon als Jugendlicher scherte sich Taghi nicht um die Gesetze. Mit fünfzehn wurde er zum ersten Mal wegen Waffen-besitzes und Einbruchs verurteilt. Und ebenso rasch wurde er ein führendes Mitglied der Unterwelt. Er kümmerte sich vornehmlich um den Kokainhandel. Es gab eine Nachfrage, und als forscher Unternehmer wollte Taghi die Nachfrage befriedigen. Aber wie das so ist mit Unternehmungen, die auf einer geheimen Logistik und gegenseitigem Vertrauen beruhen: Es läuft immer mal etwas schief. Im Hafen von Antwerpen verschwand eine Kokainlieferung. Und das führte

zu einem Bandenkrieg mit vielen Toten.

 

Zu diesen Toten gehört Ronald Bakker. Er wurde am 9. September 2015 umgebracht, weil er ein Polizeispitzel gewesen sein soll. Am 17. April 2016 wird Samir Erraghib ermordet. Taghi verdächtigte ihn des Verrats. Am 22. Juni 2016 starb Ranko Scekic, auch er ein mutmasslicher Verräter. Und so fort.

 

Verrat zählt zu den grossen Berufsrisiken eines kriminellen Unternehmers. Und Taghi griff gründlich durch, sobald er den Eindruck hatte, dass jemand in seinem Netzwerk mit der Polizei zusammenarbeitete. Seine Bande hiess «Angels of Death», angeblich die mächtigste Drogenbande in Europa und Nordafrika.

 

Der Marengo-Prozess

 

Dann machte der niederländische Staat Jagd auf Ridouan Taghi. Es war aussichtslos, jemanden in seine Bande ein-schleusen zu wollen. Kein Polizist mit marokkanischer Abstammung hätte es überlebt. Aber die niederländische Polizei hat eine sehr gut funktionierende Internetrecherche. Ermittler kamen Taghi auf die Spur. Mit der Hilfe einer kleinen Schar von Vertrauten hielt er sich in einer grossen Villa in Dubai versteckt. Wie Usama bin Ladin kam er nicht nach draussen. Am 16. Dezember 2019 wurde er festgenommen. Bereits ein paar Monate zuvor war der Prozess gegen ihn eröffnet worden. Die niederländische Justiz wollte in Abwesenheit gegen ihn vorgehen. Doch nun konnte Taghi per-sönlich am Verfahren teilnehmen.

 

Marengo-Prozess lautet der Codenamen für das Verfahren, den sich ein Computer ausgedacht hatte. Es geht um eine ganze Reihe von Morden und um Kokainhandel im grossen Stil. Taghi hat nicht die Absicht, sich widerstandslos zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilen zu lassen. Im Verfahren spielt ein Überläufer, ein gewisser Nabil B., die Haupt-rolle. Er war selber an einem von Taghi in Auftrag gegebenen, aber gescheiterten Attentat beteiligt gewesen. Nabil B. liess sich auf einen Deal mit der Justiz ein und gab alles preis, was er über Ridouan Taghi wusste. Darum musste ihn Taghi zum Schweigen bringen. Aber wie? Beide wurden schwer bewacht.

 

Noch mehr Tote

 

Erst wird ein Bruder von Nabil B. ermordet. Danach kommt Nabils Anwalt bei einem Anschlag ums Leben. Schliesslich wird der Kriminalreporter Peter de Vries, ein Vertrauensmann von Nabil, mitten in Amsterdam niedergeschossen.

 

De Vries ist jedoch nicht in seiner Funktion als Journalist umgebracht worden, sondern weil er als Hebel diente zur Beeinflussung von Nabil B. Dieser fühlte sich denn in zunehmendem Mass und durchaus nicht zu Unrecht von der Justiz im Stich gelassen: Der Bruder und der Anwalt waren getötet worden, er forderte darum einen stärkeren Schutz und drohte, seine Rolle als Kronzeuge aufzugeben. De Vries, der eine nationale Berühmtheit war, vermittelte in dieser Frage. Er wollte Nabil B. im Prozess schützen. Es wurde sein Verhängnis. Sein Tod machte die Welt auf die gewalttätigen Aktivitäten der Nachkommen von marokkanischen Emigranten in den Niederlanden aufmerksam. Es sieht danach aus, dass Taghi die Aufträge für die Morde über seinen Anwalt erteilt hatte.

 

In jedem europäischen Land mit grossen Gruppen nichtwestlicher Emigranten sind dieselben Entwicklungen einge-treten. Sozioökonomische, kulturelle, ethnische und individualpsychologische Gründe befördern die Entstehung von Banden junger Männer, die zwischen den verschiedenen Kulturen gestrandet sind. Kommt die Verherrlichung stilisierter Gewalt in der Populärkultur hinzu, entsteht eine Dynamik, die zu viele junge Männer anzieht: Geld, Sex, Glamour, teure Autos, das Leben der Superstars. Einwanderungswellen brachten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA kriminelle Banden von Italienern, Iren, Juden hervor, gegenwärtig sind es Latinos und Asiaten, die sich zu Banden zusammen-schliessen.

 

In Europa begegnen wir seit der Zuwanderung von nichtwestlichen Migranten einem ähnlichen Phänomen. Das sind die Konsequenzen der Migration. Wir müssen solche Auswüchse mit Nachdruck bekämpfen. Aber wir werden damit leben müssen, bis die heutige Generation zur Besinnung gekommen ist. Niemand weiss, wie lange das dauern wird. Aber es wird noch viele Morde geben.

 

Leon de Winter ist ein niederländischer Schriftsteller. – Aus dem Niederländischen von rbl.

 

https://www.nzz.ch/feuilleton/leon-de-winter-ueber-drogenmafia-und-migrationspolitik-ld.1656931?mktcid=nled&mktcval=174&kid=nl174_2021-12-1&ga=1&trco=