Sicherung der Freiheit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Delacroix, La liberte guidant le peuple

 

 

Darf ein Staat das Tun seiner Bürger beschränken?

Manchmal muss er, gerade wenn er liberal sein will

 

Freiheit an sich ist noch kein Gut. Freiheitsbeschränkungen, wie wir sie gerade erleben, sind eine klassische Staatsaufgabe, denn sie sichern die Grundlagen der Freiheit.

 

Martin Rhonheimer - NZZ - 09.11.2021

 

In einer Zeit, in der der Staat als Pandemiebekämpfer und damit als Garant der öffentlichen Gesundheit auftritt, fühlen sich Liberale unwohl. Denn die im Gefolge der entsprechenden Schritte erfolgte Ausweitung der Staatsmacht, insbe-sondere ihrer Möglichkeiten, die Ausübung fundamentaler Freiheiten einzuschränken, ist aus liberaler Sicht besorgnis-erregend. Dieses Unwohlsein artikuliert sich in der Schweiz gegenwärtig ganz besonders im Vorfeld der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz.

 

Während viele Liberale zwar besorgt sind und deshalb dafür plädieren, solche Massnahmen so schnell wie möglich zu beenden, argumentieren andere – radikaler –, diese Politik verstosse schon als solche gegen die Prinzipien des Liberalis-mus. Sie sei schon immer illegitim gewesen, weil sie die individuelle Freiheit einschränke. Ob man aus der Zurückwei-sung dieser tendenziell «anarchistischen» Position eine Abstimmungsempfehlung irgendwelcher Art ableiten kann, sei offengelassen. Wichtiger scheint es, ein paar grundsätzliche Überlegungen anzustellen.

 

Der klassische Liberalismus war nie «anarchistischer» Natur und deshalb auch nie einfach Advokat der individuellen Freiheit. Denn er vertrat nicht die Meinung, diese Freiheit sei aus sich selbst heraus schon ein politisches Gut. Vielmehr hat der Staat nach der klassisch liberalen Position nicht nur die Freiheit des Individuums zu schützen, sondern im Interesse der Freiheit auch für öffentliche Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit (im Sinne der Rechtsgleichheit) zu sorgen.

 

Keine Ordnung der Wahrheit

 

Während sich individuelle Freiheit aus der Natur der menschlichen Person ergibt und einfach «da ist», deshalb aber auch verletzt und unterdrückt werden kann, ist Freiheit als die Freiheit eines jeden innerhalb der Gesamtheit der in einem Gemeinwesen zusammenlebenden Bürger nie «einfach schon da». Sie muss rechtlich geschaffen, garantiert, gesichert werden. Und genau darin beziehungsweise in den politisch-rechtlichen Institutionen, die Freiheitssicherung ermöglichen, besteht das «Gemeinwohl» eines freiheitlichen, demokratischen Verfassungsstaates.

 

Das korrespondiert mit einer älteren Auffassung des Gemeinwohls, die man etwa bei Thomas von Aquin finden kann.

Er spricht vom «Gemeinwohl der Gerechtigkeit und des Friedens». Der Staat ist demnach, wie Ernst-Wolfgang Böcken-förde schrieb, keine Ordnung der Wahrheit und der Tugend, sondern eine Friedens- und Gerechtigkeitsordnung. Nur so kann der Staat auch eine Ordnung der Freiheit sein. Und genau auf dieser Grundlage lassen sich auch die Zuständig-keiten eines liberalen Staates begründen.

 

Das Thema findet sich in der modernen Form zum ersten Mal bei Thomas Hobbes. Doch löste er das Problem auf Kosten der Freiheit. Hobbes versäumte es, die institutionellen Bedingungen der Freiheitssicherung zu reflektieren, Sicherheit und Frieden hatten für ihn absoluten Vorrang, ihr Garantieren erlaubt dem «Souverän» – dem Staat –

schlicht alles. Auch wenn dies gemäss Hobbes dem Ziel dient, dem Bürger die freie Ausübung seiner Geschäfte und

das Geniessen der Früchte seiner Arbeit zu ermöglichen, bleibt es eine gefährliche Einseitigkeit.

 

Der Staat – ein «notwendiges Übel»?

 

John Locke löste das Problem zugunsten der Freiheit. Damit wurde er zum Gründervater des modernen politischen Liberalismus. Doch auch hier gibt es Lücken. Denn Locke wurde zum Anwalt der absoluten Souveränität des Parlamen-tes, er wurde in England zumindest so gelesen. In den USA hingegen wurde er durch die Brille von Montesquieu gele-sen, und damit wurde er zum Theoretiker der Gewaltenteilung und insofern auch der liberalen Freiheitsrechte. Doch gerade für Montesquieu gilt: Sicherheit ist Bedingung der Freiheit, sie vergrössert die Freiheit. Keine Freiheit ohne jene Sicherheit, die erst die Gesetze ermöglichen.

 

Genau deshalb argumentieren liberale Denker des 20. Jahrhunderts wie Friedrich August von Hayek auf klassisch-liberale Weise. Sie sehen, dass sich politische Freiheit nicht aus sich selbst begründen kann. Freiheit ist für Hayek die Abwesenheit von äusserem Zwang. Eine Ordnung des Friedens, der Sicherheit und der Gerechtigkeit (Rechtsgleichheit) sichert gerade diese Abwesenheit von Zwang. Insofern, als sie diese sichert, garantiert sie, ja vergrössert sie auch die Freiheit des Einzelnen.

 

Auch Ludwig von Mises spricht sich gegen jegliche anarchistische Auslegung des Liberalismus aus: Der Staat, so schreibt er, sei nicht nur ein «notwendiges Übel», sondern ein Gut, und zwar genau insofern, als er die Bedingungen für Freiheit sichere. Anarchismus betrachtete Mises als die allergrösste und gefährlichste politische Verirrung – er war in seinen Augen noch gefährlicher als Sozialismus.

 

Ein Nebeneinander gleicher Freiheiten

 

Frieden und Sicherheit sind nicht Selbstzweck, sie stehen im Dienste der freien Entfaltung des Individuums und der frei gewählten Formen der Kooperation zwischen Individuen, deren grundlegendste der Markt ist. Es gibt aber, neben der etatistischen, linken, auch eine anarchistische Version des Liberalismus – «libertarianism» –, die sich, aus den USA kommend, gerade mächtig regt. Sie sieht politische und wirtschaftliche Freiheit als sich selbst sichernde Prinzipien an.

 

Das ist aber aller historischer Erfahrung nach eine Illusion – und genau dagegen haben auch Liberale wie Hayek und Mises argumentiert. Freiheit, auch wirtschaftliche Freiheit, bedarf institutioneller Garantien, die durch ein staatliches Monopol legitimer Gewalt abgesichert werden – auch wenn das gefährlich ist, Missbrauch ermöglicht und diese Gewalt deshalb durch verfassungsmässige Kontrollen, individuelle Freiheitsrechte und Gewaltenteilung in die Schranken gewiesen werden muss.

 

Staatlicher Zwang ist immer rechtfertigungsbedürftig, die individuelle Freiheit ist es nicht. Natürlich ist nicht alles, was aus Freiheit getan wird, gut. Deshalb ist auch alles freie Handeln ethisch hinterfragbar und normierbar. Politisch-recht-lich jedoch ist individuelle Freiheit weder begründungsbedürftig noch ethisch zu normieren. Politisch wird sie nur dann (auch ethisch) illegitim, wenn sie die gleiche Freiheit anderer zu beschränken oder gar aufzuheben beginnt. Insofern ist ein liberaler Staat eine rechtlich geordnete Koexistenz gleicher Freiheiten.

 

Der Fehlschluss der Libertären

 

Politisch-rechtliche Ordnung und Moral der persönlichen Lebensführung sind verschiedene Ebenen, die nicht vermischt werden dürfen. Auch im Wirtschaftlichen können – aus liberaler Sicht – staatliche Massnahmen nur gerechtfertigt wer-den, insofern sie die Freiheit sichern und vergrössern, indem sie also freie Marktwirtschaft und freien Wettbewerb er-möglichen.

 

Insbesondere die auf politischen Druck hin betriebene allmähliche inflationäre Zerstörung unseres Geldes, ja die zunehmende Abhängigkeit der Geldpolitik der Zentralbanken von fiskalpolitischen Zielen und der Notwendigkeit, die Staaten vor Überschuldung zu retten, führt viele Liberale heute zum falschen Schluss, der Staat sei grundsätzlich schädlich. Genau das macht sie anfällig für anarchistisches Denken.

 

Der liberale Rückfall in eine reine Privatrechtsgesellschaft ohne staatliches Gewaltmonopol wird dann plötzlich Mode.

So zeigt es sich in der Ablehnung staatlicher Massnahmen zur Pandemiebekämpfung. Doch handelt es sich dabei gerade aus liberaler Sicht um eine klassische Staatsaufgabe: Nicht das Wohl des Einzelnen ist das Ziel, sondern der Schutz des Zusammenlebens freier Bürger. Eine Politik, die sich das Ziel setzt, eine Pandemie einzudämmen, ist nicht illiberaler Paternalismus, sondern eine Politik der Sicherung des Funktionierens grundlegender Institutionen, die der Sicherung der Freiheit dienen.

 

Entsprechende Massnahmen müssen situationsgerecht und möglichst dezentral bzw. subsidiär erfolgen. Hier sind Zweifel angebracht. Vorübergehende Einschränkungen von Grundfreiheiten können aber aus liberaler Sicht nie grund-sätzlich als illegitim angesehen werden. Es sei denn, man lasse sich vom ideologischen Virus des Anarchismus befallen, von einem letztlich unpolitischen Kult der «reinen» individuellen Freiheit und einer mit moralischem Pathos gesättigten Staatsfeindlichkeit. Doch das lässt sich liberal kaum begründen.

 

Martin Rhonheimer lehrte von 1990 bis 2020 Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegen-wärtig lebt.

 

https://www.nzz.ch/feuilleton/freiheit-an-sich-ist-kein-gut-die-pflichten-des-liberalen-staats-ld.1653756?mktcid=nled&mktcval=174&kid=nl174_2021-11-9&ga=1&trco=

 


 

Ich kann Martin Rhonheimer nicht ganz zustimmen, obwohl ich wie er auch liberal bzw. liberalkonservativ (öko-sozial-liberal) bin. Aber die individuelle Freiheit als die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und die Freiheitsrechte der Bürger als AbwesenheIt von äußerem Zwang, der durch andere Bürger, Unternehmen oder den Staat ausgeübt werden kann, sind beide ein hohes Gut, gerade, weil sie nicht "einfach da" sind oder einfach nur der Natur des Menschen entspringen.

 

Die individuelle Freiheit als die Fähigkeit zur Selbstbestimmung muss als Wahlfreiheit, als Willensfreiheit, als Impuls- und Affektkontrolle, und insbesondere als vernünftige, ethisch und moralisch verantwortliche Freiheit unter günstigen Bedingungen in jungen Jahren gelernt und geübt werden, um zur stabilen "zweiten Natur" des Menschen zu werden. Erste "natürliche" Natur des Menschen ist sie nie gewesen. Gerade aufgrund ihrer durch Erziehung und Sozialisation bedingten, prekären und vulnerablen Verfassheit ist sie ein hohes Gut, wobei die vernünftige, ethisch und moralisch verantwortliche Freiheit die höchste Form der Freiheit und damit ein besonders hohes Gut ist.

 

Auch die Freiheitsrechte der Bürger als AbwesenheIt von äußerem Zwang halte ich für ein hohes Gut, da es einiger Jahrhunderte bedurfte, um sie zu realisieren und in einem modernen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat als Recht zu institutionalisieren. Sie können immer wieder politisch eingeschränkt und abgeschafft werden. Aber gerade daher hat Rhonheimrer Recht, dass der marktradikale Neoliberalismus ein anarchistisches Mißverständnis des Liberalismus darstellt und dass die stets gefährdeten Freiheitsrechte der Bürger durch einen möglichst integren (korruptionsfreien), autarken (unabhängigen) und effektiven (durchsetzungsfähigen) Rechtsstaat gesichert werden müssen.

 

Ein eher absurdes als anarchistisches Missverständnis von individueller Freiheit und bürgerlichen Freiheitsrechten ist das angebliche "Recht", sein Geschlecht selbst zu wählen, denn über 99% der Menschen können das nicht, weil das Geschlecht angeboren und damit Schicksal ist. Es gibt weitaus weniger als 1% der Menschen, die phänotypisch keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale haben. Niemand kann das Recht (oder die Pflicht) haben, etwas von Natur aus Un-mögliches zu tun, wie z.B. sich einfach so nullkommanix in Luft aufzulösen oder mit einem einzigen Fingerschnippen die Erderwärmung zu stoppen. Genauso wenig kann jemand sein genotypisches Geschlecht wechseln, weil er dazu seinen kompletten Chromosomensatz verändern müsste. Trotzdem glauben viele Leute heute an solchen Unsinn!

 


 

„Nudging ist eine Bedrohung für die freiheitliche Gesellschaft“

 

Nicht jede Entscheidung erfolgt frei - auch nicht in der Demokratie. Oft wird der Bürger mit subtilen Beein-flussungstechniken in eine gewünschte Richtung gedrängt. Die Medizinerin und Psychotherapeutin Annemarie Jost über die Risiken von Nudging. Annemarie Jost im Interview mit Ralf Hanselle am 4. August 2023

 

Seit den Tagen Sigmund Freuds gehört die subtile Beeinflussung, ja sogar die Technik der Propaganda in den Besteck-kasten von Psychologie und Verhaltenswissenschaften. Das Wissen um die Manipulation von Menschen ist in gewisser Weise die Schattenseite einer Wissenschaft geworden, die ursprünglich einmal angetreten war, den Menschen aus den Fesseln seiner Geschichte zu befreien.

 

Doch Propaganda wäre nicht Propaganda, wenn sie sich nicht immer wieder neu und attraktiv verkleiden würde. Seit dem Jahr 2008, als der US-amerikanische Verhaltensökonom Richard Thaler das viel diskutierte Buch „Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness" vorlegte, sprechen Wissenschaft und Politik lieber von Nudging. Es handelt sich dabei um eine Technik der subtilen Verhaltenssteuerung, die zunächst besonders in den angelsächsischen Ländern Anwendung fand, unter Angela Merkel aber auch zunehmend in der politischen Kommunikation in Deutsch-land attraktiv wurde. Spätestens mit der Corona-Krise wurden Bürger offen manipuliert und zu einem politisch ge-wünschten Verhalten angeregt. Wie genau das funktioniert hat und warum solche Nudging-Strategien letztlich eine Gefahr für die freiheitliche Gesellschaft sind, darüber spricht die Medizinerin und Psychotherapeutin Annemarie Jost

mit Ralf Hanselle, dem stellvertretenden Chefredakteur von Cicero, im aktuellen Cicero Podcast Politik.

 

https://cicero.podigee.io/78-neue-episode