Glaube, Meditation und Mystizismus

 

 

 

betrachtung

 

 

endlich zur ruhe kommen

 

sich setzen und sitzen bleiben

 

aufhorchen und schweigen 

 

die flamme der kerze flackert ein wenig

 

einatmen und ausatmen

 

den verstand aufhören lassen zu denken

 

auftauchende gedanken kommen und gehen lassen

 

systole und diastole

 

weisheit des leibes

 

das andere des verstandes

 

seine mitte finden

 

das unverfügbare geschehen lassen

 

höher als aller verstand

 

glückliches gelingen

 

den wunsch zu danken spüren

 

einfach danke sagen

 

wem?

 

 


 

 

Glaube, Meditation und Mystizismus

 

Meditation betrifft den einheitlichen Gesamtzustand eines Menschen und damit sowohl die Vitalfunktionen eines Menschen, sein Gehirn und Nervensystem als auch sein Bewusstsein. Denn das Bewusstsein korreliert nicht nur mit bestimmten Zuständen im Gehirn und Nervensystem eines Menschen, sondern auch mit bestimmten Vitalfunktionen seines Organismus, die mit dem Gehirn und Nervensystem interagieren. Auch wenn man diese verschiedenen Dimensionen qualitativ, interaktiv und systemisch unterscheiden kann, wirken sie in Wirklichkeit zusammen.

 

Alle Menschen atmen ein und aus, solange sie leben. Das schein trivial zu sein, ist es aber nicht, weil das Atmen normalerweise wie alle Vitalfunktionen des menschlichen Organismus von selbst geschieht und einem nur bei besonderen Anstrengungen und unter außergewöhnlichen Umständen bewußt wird. Obwohl das Atmen primär

eine lebensnotwendige Vitalfunktion des menschlichen Organismus ist, hat es immer auch eine bestimmte Wirkung

auf das jeweilige Bewusstsein. Denn das Bewußtsein wird schon bei einem kurzen Mangel an frischer Atemluft beeinträchtigt und kann bei einem längeren Mangel zur Bewußtlosigkeit oder gar zum Tod führen.

 

Die menschlichen Vitalfunktionen reagieren jedoch auch auf einen produktiven (bewältigbaren) und destruktiven (gesundheitsschädlichen) Stress. Stress kann inneren Quellen im Bewusstsein, wie z.B. erlernten Gedankenmustern und empfangenen Eindrücken entspringen oder äußeren Quellen in der natürlichen, kulturellen und sozialen Umwelt eines Menschen, wie vor allem bei Konflikten und besonderen Erlebnissen im Privatleben, wie z.B. bei Arbeitslosigkeit, Scheidung, Todesfällen, Umzügen, etc. oder bei Konflikten und besonderen Erlebnissen im Berufsleben, wie z.B.

bei gesteigerten Konkurrenzdruck, drohenden Entlassungen, Insolvenzen, etc..

 

Das Bewusstsein des Menschen kann verschiedene Zustände annehmen und durchlaufen und unterliegt daher regelmäßig gewissen Veränderungen. Die beiden wichtigsten Zustände des Bewusstseins sind bekanntlich der Wachzustand und der Schlafzustand, in dem verschiedene Arten und Phasen von Träumen auftreten können. Alle Menschen brauchen ausreichend Schlaf, um sich zu erholen und um in Träumen psychische Konflikte zu verarbeiten.

Ein anhaltender Schlafmangel hat schlimme Folgen für die seelische Gesundheit. Daneben gibt es auch noch einige andere Bewusstseinszustände, wie z.B. die willentliche Aufmerksamkeit und Konzentration oder Weitung und Zer-streuung oder unwillentliche Ekstase, Trance und Hypnose und schließlich auch Meditation.

 

Meditation geschieht unwillkürlich, wird eher von einem selbst zugelassen wie das Einschlafen als willentlich gesteuert, obwohl sie im Ausgang vom Wachbewusstsein willkürlich initiiert, praktiziert und geübt werden kann. Meditierende können ihre Aufmerksamkeit nach innen, auf sich selbst und damit auf ihr psychisches Innenleben der Gedanken und Emotionen richten oder aber nach außen auf einen bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt oder auf dynamische Ereignisse und Prozesse in ihren subjektiven Wahrnehmungen bzw. in ihrer objektiv erfassbaren Umwelt. Dabei beginnt man oft mit einfachen Übungen der anfangs ungewohnten Aufmerksamkeit auf den natürlichen Fluss des eigenen Atems. Das entspannt den Muskeltonus und andere Vitalfunktionen des Organismus und harmonisiert damit meistens auch die Emotionen.

 

Das eigene Bewusstsein wird in der Meditation kontemplativ auf eine anschauliche Gegebenheit gerichtet oder suggestiv auf bestimmte Gedanken oder Lautfolgen (Gebetsformeln), die den willentlichen Gedankengang und die unwillkürliche Assoziation verhindern. Diese Übungen dienen letzten Endes dazu, einen kurz oder länger anhaltenden Zustand des gedankenfreien Gewahrseins des eigenen Selbst und seiner unmittelbaren Lebenswelt zu erreichen, den Menschen ohne Meditationserfahrung oder -praxis seltener oder gar nicht von sich kennen, geschweige denn will-kürlich initiieren können.

 

Das Bewusstsein der Meditierenden kann in diesem fortgeschrittenen Stadium der Meditation für eine gewisse Zeit frei von inneren Bildern und Gedanken sein. Das ist ein Bewusstseinszustand im aufmerksamen Wachbewusstsein, zu dem die meisten Menschen ohne Meditationserfahrung oft gar nicht fähig sind. Die Fähigkeit zum Meditieren diente ur-sprünglich nicht nur gesundheitlichen Zwecken, sondern vor allem auch der eigenen Bewusstheit, der inneren Freiheit von erworbenen Gewohnheiten und Zwängen, der psychohygienischen Bewahrung von Kreativität und Spontaneität sowie der situativ adäquaten Wahl seiner Gedanken, Worte und Taten.

 

Risiken und Nebenwirkungen

 

Es gibt jedoch zumindest in den ersten Jahren einer regelmäßigen Meditationspraxis oft auch eher unangenehme, ungewohnte und schwierige Nebenwirkungen, die aus der Selbsterfahrung und introspektiven Aufmerksamkeit auf

die inneren Vorgänge im eigenen Bewusstsein resultieren, wie z.B. auf spontane Assoziationen, erlernte Gedanken-muster und reaktive Emotionen. Solche Meditationsübungen dienen einer tieferen Selbsterforschung, wie sie im jüdisch-christlich geprägten Abendland seit der Neuzeit und Aufklärung, Säkularisierung und Moderne fast nur noch

in den kontemplativen Praktiken und spirituellen Exerzitien in einigen Orden und Klöstern der römisch-katholischen Kirche gepflegt werden. Von diesen zumindest anfänglich unangenehmen und schwierigen Nebenwirkungen ist in

den öffentlichen Empfehlungen meditativer Praktiken jedoch meistens nicht die Rede.

 

Die vor allem auf persönliche Leistungen in Arbeit und Familie sowie auf Erholung durch Freizeit und Konsum einge-stellten Menschen des Westens – und zunehmend auch des Fernen Ostens – können jedoch oft gar nicht verstehen, worum es bei dieser Art von meditativer Selbsterforschung geht und warum es auch zu einem tieferen, nicht immer gerade angenehmen Verständnis ihrer allzu menschlichen Mitmenschen führen kann. Daher ahnen die meisten Menschen kaum, welchen fundamentalen Bewusstseinswandel, welchen Grad an Bewusstheit und welche seelische Tiefe im intuitiven Verständnis seiner selbst und anderer Menschen manche Meditierende erreichen können. Das bringt viele Meditierende oft in eine schwierige Distanz zu der alltäglichen Betriebsamkeit im Berufs- und Privatleben und zu den gewohnheitsmäßigen, weitgehend akzeptierten, aber allzu oft unbewußt und mechanisch ablaufenden Verhaltens-weisen ihrer Mitmenschen und Mitbürger.

 

Im erfolgs- und zweckorientierten Westen erhoffen sich die meisten Menschen von der Meditation jedoch allzu oft nur einen schnellen und unmittelbaren Nutzen für ihre eigene Gesundheit und für ihre Fitness und Leistungsfähigkeit in Beruf und Privatleben. Das kommt meistens von einer für diese Zwecke eingesetzten Nutzung und Vermarktung von Meditation. Diese Nutzung läuft jedoch den ursprünglichen spirituellen Zielen und dem “Geist der Meditation” zuwider. Der in der Moderne weit verbreitete Verlust ihrer Einbettung in eine kulturell verwurzelte spirituelle Tradition und der allgemeine Verlust einer Verwurzelung der Menschen in eine lebendige Tradition des Glaubens verstärkt diese mer-kantilistischen und utilitaristischen Tendenzen. Die meisten Menschen glauben deswegen fälschlich freier zu sein und merken gar nicht, wie sehr sie von wechselnden Moden, Märkten und Techniken bestimmt werden.

 

Ursprünge und Fallstricke

 

Zwar haben auch im europäischen Mittelalter bis zur Reformation und Neuzeit gewöhnlich nur katholische Geistliche, Mönche und Nonnen verschiedene Arten von christlicher Meditation praktiziert und spirituelle Exerzitien zur Schulung des Bewusstseins durchlaufen, aber in der Moderne haben die berechtigte Kritik an der wirtschaftlichen Ausbeutung von Menschen, Tieren, Pflanzen und Bodenschätzen und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nicht selten zu esoterischen Heilserwartungen und zu spirituellen Sehnsüchten nach exotischen Meditationsformen mit Ursprung

in östlichen Religionen geführt. Meistens geht es um einen missionierenden Neo-Hinduismus und um einen an west-liche Mentalitäten angepassten Buddhismus oder um einen vagen Mystizismus. Nicht selten werden ursprünglich seriöse Schulungswege der Meditation für die nirwarnasüchtigen Kinder der modernen Großstädte mit ihren funktio-nalen Hochhäusern aus Stahl, Beton und Glas zweckmäßig aufbereitet, als einfache Heilswege angepriesen und ge-schickt vermarktet.

 

Dabei werden die ursprünglichen spirituellen Methoden und Lehren durch deren kulturelle Entwurzelung und kom-merziellen Export in eine westliche Kultur verwässert und verfälscht. Die westlichen Interessenten und Konsumenten dieser angeblichen Heilswege können aufgrund ihrer mangelnden kulturellen Vertrautheit mit diesen östlichen Schulungswegen diesen Schwindel jedoch kaum bemerken und durchschauen. Da sie nur selten durch die einschlägi-gen Schriften von evangelischen Theologen wie Albert Schweitzer, von Religionsphänomenologen wie Rudolf Otto, von Religionswissenschaftlern wie Robert Zaehner oder von Religionspsychologen wie C.G. Jung über die psychologische und spirituelle Problematik des kulturellen Transfers aufgeklärt wurden, tauchen sie oft kritiklos in diese fremden Geisteswelten und Praktiken ein. Dann werden sie aber von fremder Hand vereinnahmt und verändert, ohne noch selbst den Kurs bestimmen zu können. Die nur allzu verständliche Sehnsucht nach Überwindung der eigenen Selbst-entfremdung endet daher nicht selten in einer noch größeren Selbstentfremdung und tieferen Depression. Das kommt meistens daher, dass man gar nicht zu würdigen versteht, was in einem selbst bereits an einer viel näher liegenden abendländisch-europäischen bzw. jüdisch-christlich geprägten Spiritualität angelegt ist und nur zur fruchtbaren Entfaltung kommen muss.

 

Hinzu kommt, dass es auf diesem grauen Markt der östlichen Spiritualität zwischen Seelsorge und Psychotherapie wie im unmoderierten Internet keine kompetente Supervision gibt, die die Anbieter von Meditation und Bewußtseins-schulung kompetent ausbildet, vorsichtig selektiert und umsichtig korrigiert. So tummeln sich in diesem unregulierten Bereich oft zwielichtige Anbieter, die ihre eigenen psychologischen Defizite und Probleme, Komplexe und Traumata in die hochsensible Beziehung zu ihren allzu vertrauensseligen Schülern hineintragen. Auf diese Weise können sie ihre leicht verwundbaren Schüler nach Lust und Laune manipulieren, sexuelle Beziehungen eingehen und psychologische Machtspiele ausleben, wie es sonst nur noch auf dem “grauen Markt” der alternativen, nicht anerkannten und nicht regulierten Psychotherapien möglich ist.

 

Die Vorreiter dieser esoterischen Moden kommen dabei meistens ursprünglich aus den spirituellen Schulen des indischen Advaita-Vedanta oder des Vipassana-Buddhismus oder des japanischen oder tibetischen Zen-Buddhismus. Vermarktet werden sie im Westen zumeist als angeblich neutrale und inklusivistische Formen der Meditation oder der Schulung des Bewußtseins von hypnotisierten Anhängern durch einen angeblich initiierten und “erleuchteten” Lehrer (Darshan-Bewegung). Obwohl man sich mit einer angeblichen religiösen Toleranz brüstet, sind diese Bewegungen gar nicht so tolerant, wie sie meinen und behaupten. Vielmehr bringen sie meistens eine unterschwellig feindselige Ein-stellung gegen Judentum, Christentum und Islam mit sich, die pauschal als “patriarchale” und “dogmatische” Buch-religionen gebrandmarkt werden. Nicht selten werden zusätzlich zu den eigenen psychischen Problemen auch noch Ressentiments und Vorurteile ausgelebt. Schließlich kommen oftmals auch noch politische Motive mit “emanzipa-torischen” Intentionen hinzu.

 

Wie häufig in Indien immer noch Witwen verfolgt, weibliche Föten abgetrieben und junge Frauen öffentlich vergewaltigt werden, ohne hinreichende öffentliche Kritik oder reguläre strafrechtliche Konsequenzen wird ebenso gerne verschwie-gen wie die eingefleischte Weltangst, Frauen-, Leib- und Lustfeindlichkeit der buddhistischen Mönchsreligion. Nicht viel besser steht es um die meisten dieser Bewegungen und Lehrer und ihre hingebungsvollen und unkritischen Anhänger (Devotees). Aufgrund mangelnder Skepsis und Kritikfähigkeit entstehen oft psychologische Abhängigkeiten, die der-jenigen der Anhänger jüdischer, christlicher und islamischer Sekten in nichts nachstehen. Daher kommt es nicht gerade selten zu fragwürdigen Machenschaften in den Organisationen, zu finanzieller Ausbeutung der allzu leichtgläubigen und hypnotisierten Anhänger, zu spirituellem Machtmissbrauch und zu sexueller Ausnutzung in der hierarchischen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern.

 

Schon Hitler und die Nationalsozialisten hegten nicht nur eine Vorliebe für die anti-christlichen Ressentiments Nietz-sches und für die anti-semitische Weltanschauung Wagners, sondern auch für ein schwüles Gebräu aus östlichem Mystizismus und esoterischer Theosophie gepaart mit einem pseudowissenschaftlichem Darwinismus und einer politischen Rassenideologie. Heinrich Harrer reiste als ein glühender Nazi nach Tibet und fröhnte diesem seltsamen Hang zum tibetischen Buddhismus mit seiner fatalistischen Verliebtheit ins Schicksal (Karma). Das Hakenkreuz als das Kennzeichen ihrer ideologischen Massenbewegung übernahmen die Nazis nicht zufällig aus dem tibetischen Buddhi-mus. Die sog. Swastika im weißen Kreis auf rotem Grund fungierte als ein magisches Fruchtbarkeitssymbol ihrer “arischen” Volksbewegung. Mit diesem importierten Zeichen betörten und eroberten sie die bindungs- und orien-tierungslosen Menschen der Weimarer Republik als willige Helfer ihrer destruktiven antisemitischen und antichristlichen Massenbewegung. Die Inder und Tibeter galten bei ihnen nämlich anders als die Juden als “gute Arier” und waren ihnen schon alleine deswegen willkommen.

 

Dieser antisemitische und antichristliche Impuls gegen die jüdische Thora und gegen das christliche Evangelium leben offensichtlich in der zeitgenössischen Hinwendung zum östlichen Mystizismus immer noch fort. Sie nähren das Inte-resse an neo-hinduistischen Missionsbewegungen und an den indischen Importen des Ayurveda, des Darshan, der Meditation und des Yoga. Davon betroffen sind auch noch andere fernöstliche Methoden der sog. “ganzheitlichen Naturheilkunde”, wie z.B. Reiki, Shiatsu oder Varianten des Schamanismus.

 

Dabei wird meistens ausgeblendet, dass gerade diese moderne Abwendung von dem gemeinsamen Glauben der Juden, Christen und Muslime an einen verborgenen Gott als Ursprung einer an sich guten und bewahrenswerten Schöpfung die moderne technische Ausbeutung von Mensch und Natur massiv befördert hat. Denn weder Hindus noch Buddhis-ten glauben an einen lebensbejahenden Schöpfergott und können daher die irdische Natur auch nicht als seine Schöpfung und sich selbst als seine Geschöpfe begreifen. Weltflüchtige Hindus müssen daher die mangelnde Hygiene in ihren Städten und die massive Naturzerstörung in ihrem Land ebenso hinnehmen wie die kapitalistische Ausbeutung durch hierarchisch organisierte Unternehmen. Weltflüchtige Buddhisten nehmen diese Umstände meistens ebenfalls hin, streben jedoch danach, diesen destruktiven Umständen in ihrer Lebenswelt durch einen angeblichen Ausstieg aus dem karmischen Rad der Wiedergeburten zu entkommen.

 

Gleichwohl fördern diese Bewegungen des östlichen Mytizismus, des Darshan und der Meditation im Westen nur allzu oft einen egozentrischen Rückzug aufs Privat- und Berufsleben, einen bloß individualistischen und amoralischen Wert-subjektivismus und einen solipsistischen Gnostizismus der Vergöttlichung des eigenen Selbst durch spirituelle und meditative Selbsterlösung, durch alternative Aryurveda-Heilkunde, exotische Wellnesskuren und strengen Vegetarismus oder durch die schnelle Erlösung durch einen angeblich “erleuchteten” Lehrer (Guru). Diese angeblich erstrebenswerten Einstellungen und bevorzugten Überzeugungen sind jedoch mit einem jeden, auch noch so korrupten politischen Regime und daher auch mit autoritären, anti-demokratischen und faschistischen Regimen vereinbar.

 

Wenn es die raum-zeitliche Welt angeblich gar nicht gibt, weil es angeblich gar keine objektive, evidenzbasierte und wissenschaftliche Erkenntnis von Fakten gibt, sondern nur x-beliebige Meinungen und unzählige Perspektiven, wenn die Welt angeblich nur Schein (Maya) und ein subjektives Produkt des eigenen Bewußtseins oder gar des Gehirns (Matrix) ist, dann lebt man in der narzisstischen und solipsistischen Illusion, dass diese Welt wie eine Art von Filmkulisse wäre und das eigene Leben wie ein interessanter Film -- mit sich selbst als Hauptdarsteller.

 

Der reale und lebendige Kontakt zu Menschen, Pflanzen und Tieren geht dabei jedoch oft verloren. Ein realistisches politisches Verständnis und ein zielführendes Engagement für die Umwelt, das Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit werden zwecklos. Vielmehr führt das zu einer noch tieferen Entfremdung von seiner eigenen Leiblichkeit mit ihren natürlichen lebenserhaltenden Bedürfnissen, von seiner umgebenden Natur, von seiner faktischen Einbettung in die eigene Gesellschaft und von der Verwurzelung in die eigene Kultur. Persönliche Eigenbrötlerei, esoterische Spinnerei, der weit verbreitete Aberglaube an Verschwörungstheorien und mangelnde Kooperationsfähigkeit sind oft die Folgen dieser Verirrungen und Verstrickungen.

 

Vereinbarkeit der Meditation mit dem christlichen Glauben?

 

Meditation und christlicher Glaube sind grundsätzlich vereinbar. Denn Meditation ist eine introspektive und subjektive Selbsterforschung des eigenen Bewusstsein und damit auch der eigenen Leiberfahrung, das als mein aktuelles und individuelles menschliches Bewusstsein und meine eigene Leiberfahrung mit dem Bewusstsein und der Leiberfahrung anderer Menschen bestimmte gemeinsame Eigenschaften, Formen und Funktionen intersubjektiv teilt, weil sie immer mit bestimmten, von Neurowissenschaftlern objektiv erforschbaren Prozessen, Zuständen und Funktionen des Gehirns und Nervensystems des menschlichen Organismus korrelieren.

 

Meditation lehrt uns daher gerade wie die Neurowissenschaften, dass wir nicht bloß unentrinnbar in unsere Individua-lität und Subjektivität eingeschlossene “fensterlose Monaden” (Leibniz) sind, die nur Illusionen von uns selbst, von unseren Mitmenschen und unserer Lebenswelt hervorzubringen vermögen (Thomas Fuchs). Es gibt jedoch durch östlichen Mystizismus beeinflusste “Neurophilosophen”, wie Thomas Metzinger, die uns gerade das weismachen wollen. Aber da Meditation ein ganzheitlicher Zustand des Menschen mit einem besonderen Zustand des Bewusstseins ist, so wie das Sich-Konzentrieren und das Sich-Zerstreuen, wie das Tagträumen und das Träumen in der Nacht, wie Ekstase, Trance und Hypnose, wie Nüchternheit und Enthusiasmus, können Christen natürlich ebenso lernen zu meditieren wie Juden und Muslime, Hindus oder Buddhisten, Sikhs oder Bahais.

 

Juden und Christen hören aber nicht dadurch auf Juden und Christen zu sein, wenn sie zu meditieren lernen. Aber Juden und Christen neigen vermutlich dazu, ihre meditativen Selbsterfahrungen und die philosophischen Voraussetzungen und empirischen Entdeckungen der Neurowissenschaftler anders zu interpretieren als etwa Buddhisten und Hindus. Daher kommt es für Christen durchaus darauf an, welche Art von Meditation sie lernen wollen und welche Art von christlichem Glauben und welcher Kirche und Tradition sie angehören. Meditation ist also wie die Neurowissenschaften niemals kulturell neutral, sondern immer schon kontextuell und kulturell imprägniert. Denn selbst unsere unmittelbare Selbst- und Welterfahrung wird schon von bestimmten erworbenen intuitiven Schemata des Räumlichen und des Zeitlichen (Kant) sowie von sprachlichen Erfahrungsbegriffen und logischen Kategorien (Wittgenstein) geprägt, die wir mit anderen Menschen teilen und denen wir nicht entkommen können.

 

Allerdings sind sich Meditierende oft eher der Subjektivität und der lebensgeschichtlichen Entwicklung ihrer persön-lichen Gottesbilder und des geheimnisvollen Zusammenhanges zwischen Selbstbild und Gottesbild, Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis bewußt. Dennoch ist das jüdisch-christliche Verständnis von Gott als dem “Schöpfer des Himmels und der Erde”, der unabhängig von den Vorstellungen, Sehnsüchten und Wünschen der Menschen existiert, nicht nur eine nützliche Fiktion oder gar täuschende Illusion, sondern zumindest ein “regulatives Ideal” (Kant) oder gar eine absolute, bewusstseinsunabhängige und transzendente Wirklichkeit (Hegel). Dennoch kann die Realität Gottes weder objektiv erkannt noch biblisch, empirisch oder rational bewiesen werden wie bestimmte Sachverhalte, Kausalitäten oder Naturgesetze in der Welt.

 

Das scheint jedenfalls dann zu stimmen, wenn man unter einem 'Beweis' versteht, dass eine Person A, die davon überzeugt ist, dass es Gott gibt, eine andere Person B, die nicht davon überzeugt ist, dass es Gott gibt, mit Hilfe einer Reihe von biblischen Belegen, von empirischen Beobachtungen und Theorien oder von rationalen Argumenten davon überzeugen kann, dass Gott doch existiert. Selbst wenn das im Einzelfall zu gelingen scheint, kann es sich nur um einen rhetorischen Erfolg aus psychologischen Gründen handeln, der aber keinen echten strengen Beweis darstellt. 

 

Die Vereinbarkeit von Meditation mit allen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen nutzen jedoch viele neo-hinduistische Meditationsbewegungen, aber auch einige Schulen, Linien und Lehrer der Darshan-Bewegung für sich aus. Denn sie präsentieren sich selbst nicht immer wahrheitsgemäß als eine neue, missionierende Form des im Westen so genannten Hinduismus, sondern als eine globale und universale Meditationsbewegung, die angeblich gegenüber allen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen neutral sei.

 

Damit präsentieren sie den ahnungslosen Menschen im Westen ihre eigene inklusivistische Einstellung sogar als eine angeblich überlegene Form der Toleranz. Aber diese vermeintliche Toleranz hat einen hohen Preis und dieser Preis besteht in einer gnadenlosen Intoleranz gegen den jüdischen Tanach, die christliche Bibel und den islamischen Koran, die in ihren Kreisen tabuisiert werden. Und häufiger als Juden und Christen relativieren sie wie manche Anhänger des politischen Islam (Muslimbrüder, Salafisten, u.a.) dann oft auch noch die im Westen etablierten landestypischen Rechts-ordnungen, weil sie sich über solche weltlichen Ordnungen als Teil des vom “unerleuchteten Bewusstsein” erzeugten Scheinzusammenhanges (Maya) erheben.

 

Nur Juden, die ihren Tanach und ihre Thora verleugnen, nur Christen, die die Bibel und das Evangelium verleugnen, nur Muslime, die ihrem Koran und den Hadithen abschwören, sind ihnen wirklich willkommen. Das läuft auf die Erwartung einer allmählichen Konversion hinaus. Obwohl es in den neo-hinduistischen Meditationsbewegungen und Darshan-Schulen kein offizielles Ritual der Inkorporation, keinen Ritus der Konversion und kein festes Glaubensbekenntnis gibt, gibt es dennoch eine persönliche Konversion zum Neo-Hinduismus und zur Weltanschauung des Advaita-Vedanta, die sich eben nur schleichend durch allmähliche Entfremdung vom Glauben seiner Herkunft und seiner Vorfahren vollzieht. Den Rest erledigen der Gruppen- und Konformitätszwang unter den Anhängern, eine psychische Unterwerfung der “Devotees” unter den Guru und eine persönliche oder gemeinsame Verehrung für den Darshan-Lehrer, etc.

 

Daher können sicher nicht alle Formen und Schulen der Meditation für Christen in gleicher Weise geeignet und förder-lich sein. Denn es spielt eine erhebliche Rolle, wann und wo, bei wem und von wem man das Meditieren lernen will. Die Organisation und der Kontext sind ebenso relevant wie die weltanschaulichen und spirituellen Lehren. Für katholische Christen ist das meistens kein so großes Problem, da bestimmte Formen der geführten Andacht, der geistlichen Exer-zitien und der Übung der Meditation von Hause aus zu dem geistlichen Repertoire ihrer Orden gehören. Aber es gibt auch Diözesen und Orden, die im Zuge des wachsenden westlichen Interesses an Meditation im Kern unchristliche Lehren und Praktiken der fernöstlichen Meditation vor allem aus dem Umkreis des Zen-Buddhismus haben eindringen und sich ausbreiten lassen. Wenn darüber jedoch aus seelsorgerischen Gründen zum Schutz der Christen und Kirchen wahrheitsgemäß aufgeklärt wird, gilt das bereits als christliche Intoleranz. Gleichzeitig werden die missionarischen Absichten und die heimliche Intoleranz der budhhistischen und neo-hinduistischen Missions- und Meditations-Bewegungen opportunistisch verschwiegen. In buddhistischen Klöstern und neo-hinduistischen Ashrams ist es umgekehrt nämlich meistens streng verboten, Bibeln und Evangelien zu besitzen, zu lesen und zu verbreiten.

 

Für evangelische Christen aller Konfessionen und Denominationen ist es jedoch wegen des anderen Verständnisses von Glaube und Kirche, von Gläubigen und Gemeinden, von Bekenntnissen und Sakramenten sowie von Kirchenamt und kirchlicher Lehre schon ein Problem, eine mit ihrem Glauben vereinbare Form der Meditation im vertrauten Kontext ihrer herkunftsmäßigen oder bevorzugten Kirchengemeinde kennen zu lernen. Denn spätestens seit der Neuzeit, Aufklärung und Moderne gibt es praktisch keine innerkirchlich etablierten Formen von geistlichen Exerzitien und christlichen Meditationsübungen in Analogie zum reichhaltigen geistlichen Repertoire der katholischen Orden mehr.

 

Die Konzentration auf die Verkündigung des Evangeliums und die Durchführung der Sakramente in predigtzentrierten Gottesdiensten ergänzt durch die diakonische Arbeit der Gemeinden haben in der Praxis keinen Platz gelassen für eine geistliche Schulung des Bewußtseins durch Exerzitien oder Meditation oder der geistlichen Heilung durch Rituale. Daher gilt in den Kirchen der Reformation die unausgesprochene Devise: Protestanten pilgern und meditieren nicht – wie Katholiken – es sei denn sie meditieren über die Bibel.

 

Das ist schade, denn Meditierende öffnen ihre Sinne nicht nur für eine achtsamere Wahrnehmung der ganzen Fülle der vielschichtigen Wirklichkeit, sondern sie können auch oft noch tiefer über die unerklärlichen Geheimnisse dieser Welt und ihrer Mitmenschen staunen. Dagegen ist der kalte “Wissenschaftsaberglaube” (Jaspers) der Skeptiker an die angebliche wissenschaftliche Erklärbarkeit aller Pänomene in der Welt und ihrer Mitmenschen nur das schreckliche Ende alles Staunens.

 

So wie die Subjektivität bestimmter Gewissensentscheidungen in der säkularen Moderne irrtümlich zur subjektivis-tischen und relativistischen Beliebigkeit aller Wahrheitsansprüche des Evangeliums und des christlichen Glaubens, Bekennens und Denkens auf dem kunterbunten “Markt der Möglichkeiten” politisch umfunktioniert wurde, so sehr

fehlt es jedoch oft an einem evangelischen Verständnis für die authentische Erfahrung des Heiligen Geistes. Das führt nicht selten zu einem seltsamen Unverständnis der biblisch überlieferten Nikodemuserzählung von der Notwendigkeit der Wiedergeburt für das Eintreten, Erleben und Verstehen des Reiches Gottes oder der pfingstlichen Erfahrung des Heiligen Geistes. Die davon betroffenen Gewohnheitschristen sind sich aufgrund ihrer allgemeinen Unkenntnis noch nicht einmal dieses Mangels bewusst. Daher haben sie oft auch gar keine lebendige Beziehung zu Gott durch Jesus Christus.

 

Im Cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius heißt es: “Und wäre Christus auch Tausend Mal in Jerusalem geboren, aber nicht in Dir, so wärst Du doch immer und ewiglich verloren.” D.h. weder der “historische Jesus” der liberalen Theologen noch unser historisch informiertes Wissen über den galiläischen Propheten, Wanderprediger und Wunderheiler Yeschuah können uns erlösen. Nur die Nikodemus-Erfahrung der Wiedergeburt und die persönliche Begegnung mit dem auferstandenen Christus können den Heiligen Geist vermitteln.

 

Die Krise des christlichen Glaubens und die Flucht in den geistlosen Mystizismus

 

Aber wenn es auch unter ordinierten Pfarrern, gelernten Predigern, selbsternannten Evangelisten dann aber zum unerwünschten Burnout oder zu verschiedenen Formen der Sucht kommt (in Form einer seelischen Abhängigkeit von Arbeit, Alkohol, Drogen, Macht, sexuellem Missbrauch, etc.), dann sollen oft nicht nur christliche Seelsorge oder säkulare Psychotherapie helfen, sondern manchmal auch gewisse Formen der geistlichen Schulung und der Meditation. Natür-lich stehen dann öfters auch katholische Seelsorger und Meditationslehrer bereit. Aber manche evangelische Christen geraten dann seit den Beatles und der Flower-Power-Bewegung auch in den fragwürdigen Dunstkreis des östlichen Mystizismus, der Darshan-Lehrer und der neo-hinduistischen Meditation.

 

Eine zweigleisige Praxis mag vorübergehend möglich sein, solange jemand fest im Glauben steht und solange jemand noch weiß, worauf es beim christlichen Glauben evangelischer Prägung und bei der kirchlichen Verkündigung des Evangeliums ankommt. Leider haben jedoch die historisch-kritischen Übertreibungen der Bultmannschen Entmytho-logisierung, der Feuerbachschen Anthropologisierung und der textkritischen Demontage wesentlicher Glaubensinhalte der Evangelien in den Herzen und Köpfen vieler evangelischer Christen verheerende Schneisen der geistlichen Ver-wüstung geschlagen. Die übertriebene Wissenschaftlichkeit der historisch-kritischen Methoden der Exegese und der Interpretation der biblischen Schriften mit ihrem schulmeisterlichen Hang zur Leugnung des Wunderbaren und des Geheimisvollen hat viele “liberale” Theologen stolz, die Herzen kalt und die Köpfe zu voll von positivistischen Vorurteilen gemacht.

 

An die Stelle des christlichen Glaubens traten entweder eine narzisstische Selbstverherrlichung und eine dumpfe allgemeine Lebensbejahung, die nur auf eine egozentrische Steigerung von Genuss, Konsum und Macht aus ist oder aber eine selbstgerechte Hypermoral und eine neue Gesetzlichkeit der politischen Korrektheit. Aber weder auf die eine noch auf die andere Weise können Christen wirklich zu einem wahrhaftigen Glauben finden und ihres Lebens froh werden. Obwohl das Lebendige immer wertvoller ist als alle bloßen Sachen, sei es tote Naturdinge oder menschliche Artefakte, ist der wache und lebendige menschliche Geist, der eine bewusste Lebensführung überhaupt erst ermöglich, wertvoller als das dumpfe Leben mit seinem dunklen Lebensdrang.

 

Die politische Vereinnahmung der evangelischen Kirche scheint sich zu wiederholen, wenn auch unter ganz anderen politischen Vorzeichen. Während der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde die Evangelische Kirche von den sog. “Deutschen Christen” vereinnahmt, was die Mitglieder der "Bekennenden Kirche" zurecht kritisiert hatten. Es scheint manchmal, dass sich evangelische Christen mehr auf andere Menschen, politische Parteien und Regierende als auf Christus, die Bibel und das Evangelium verlassen. Die Identifikation mit, Wählerschaft von oder Zugehörigkeit zu einer politischen Partei wird für sie wichtiger als die Treue zu Christus und damit zu Gott. Dabei kommt es nicht darauf an,

ob sich diese Partei immer noch “christlich” nennt. Vielmehr kommt es darauf an, woran man sein Herz hängt.

 

Martin Luthers vor 500 Jahren gut gemeinte Lehre von der Priesterschaft aller Laien ist durch die fortschreitende Säkularisierung, Ideologisierung und Politisierung längst unglaubwürdig geworden. Gewohnheitschristen, die ganz anders als Luther kaum noch die Bibel, das Evangelium oder das Glaubensbekenntnis kennen und verstehen, können sich doch kaum noch auf diese lutherische Lehre berufen. Aber auch viele evangelische Pfarrer und Pfarrerinnen tun sich schwer damit, die Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses wörtlich zu verstehen und für wahr zu halten. Daher neigen sie dazu, sie metaphorisch, psychologisch oder moralisch umzudeuten, um vor sich selbst, vor ihrem Gewissen und vor ihren kirchlichen Vorgesetzten bestehen zu können.

 

In einer Kirche, die aus Liebe und Fürsorge Freiheit im persönlichen Glauben gewährt und die, Gott sei Dank, weder die Gewissen noch die persönlichen Glaubensüberzeugungen kontrollieren möchte, sind verschiedene persönliche Ein-stellungen und Umgangsweisen mit dem Glaubenbekenntnis jedoch kein Problem. Auf der Ebene der Gläubigen handelt es sich bei dieser Glaubensfreiheit nicht nur um eine “von oben” zugelassene, sondern um eine in der gegen-seitigen Liebe und Geduld erwünschte Vielfalt. Auf der Ebene der Kirchenleitungen, Pfarrer und Pfarrerinnen hat die Vielfalt jedoch dort ihre notwendigen Grenzen, wo es um die anerkannten Kerngehalte des Evangeliums, des Glaubens-bekenntnisses und der Sakramente geht.

 

Natürlich sind selbst diese anerkannten Kerngehalte immer noch etwas, was interpretiert werden kann und muss. Aber was auch immer Synoden beschließen, verspricht für eine Kirche in der Glaubenkrise keinen Ausweg aus dem Dilemma: Gäbe man die altprotestantische Interpretation des Apostolischen Glaubensbekenntnisses ganz auf, wären die Freunde der altprotestantischen Interpretation unzufrieden. Würde man die altprotestantische Interpretation des Apostolischen Glaubensbekenntnisses für die Ordination verbindlich machen, würde man die Freunde der neuprotestantischen Interpretationen und der Offenheit für persönliche Deutungen verprellen. In einer solchen Lage helfen vermutlich nur Geduld und Toleranz statt Bekenntniseifer, Versöhnung und Zuversicht statt Spaltung von Kirchen und Gemeinden und freilich eine gute Prise Humor.

 

Östliche Meditation und östlicher Mystizismus in den evangelischen Kirchen?

 

Östliche Meditation und ein vager Mystizismus jenseits des Evangeliums von Jesus Christus, Kreuz und Auferstehung, Gesetz und Evangelium, Wunderglauben und Wundererzählungen können diese maßlosen theologischen und geist-lichen Verwüstungen jedoch nicht ausgleichen. Das Unkraut dieses vagen Mystizismus wuchert jedoch auch schon im Weinberg des Messias und man muss schon kräftig hoffen, dass die ausgestreute Saat des Sämanns und der kräftig sprießende Weizen des Evangeliums trotzdem aufgehen und nicht von diesem Unkraut überwuchert werden. Aber die Sehnsucht der kalten Herzen und strengen Köpfe nach dem Nervenkitzel des Esoterischen und des vagen Mystizismus soll bloß künstliche Sensationen an die Stelle der seelischen Offenheit für die Geheimnisse und Wunderberichte des christlichen Glaubens setzen.

 

Eine gelingende Meditationspraxis schärft jedoch eher das nüchterne Verständnis dafür, dass weder eine säkulare Psychologisierung noch eine pietistische Emotionalisierung noch ein charismatischer Enthusiasmus noch ein evangeli-kaler Heilsaktivismus mit obligatorischer Bußtaufe, geistlicher Umkehr, Dämonenaustreibung, Zungenrede, Wieder-geburt und angeblicher Taufe mit den Heiligen Geist jemand aktiv zu einem authentischen Glauben führen können. Denn ein authetischer Glaube ist ein unverfügbares Geschenk der Gnade (sola gratia) und kann weder durch einen forcierten Heilsaktivismus noch durch soziales und politisches Engagement bewirkt werden.

 

Freilich dürfen sich evangelische Christen über alle diese Themen persönlich austauschen und friedlich und fair streiten. Aber auch das nützt wenig, wenn das Apostolische Glaubensbekenntnis selbst nicht mehr für wahr gehalten wird, wenn die kirchlichen Sakramente nicht mehr angemessen verstanden werden, wenn das Evangelium nicht mehr recht ver-kündigt wird und wenn Wunder wegen eines positivistischen “Wissenschaftsaberglaubens” (Jaspers) von vornherein

für unmöglich gehalten werden. Das gilt insbesondere für das Zentralwunder des christlichen Glaubens: die leibliche Auferstehung Jesu Christi. Paulus hatte es nämlich schon trefflich auf den Punkt gebracht: “Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.” (1. Kor. 15)

 

Freilich kann dieser Glaube nicht erzwungen werden. Aber wenn die meisten Pfarrersleute selbst nicht mehr an die leibliche Auferstehung Jesu glauben (können), wie sollten sie es überzeugend predigen können? Und wenn sie es nicht mehr überzeugend predigen können, wie sollten sie den christlichen Glauben verkündigen und vermitteln können? Ohne das lebendige Wasser des Auferstehungsglaubens wird der vormals blühende Baum des christlichen Glaubens von innen austrocknen und absterben.

 

Die modische Flucht in einen vagen Mystizismus mit seinem anti-intellektuellen Ressentiment gegen solide christliche Theologie und kritische Philosophie und mit einem selbst gebastelten und als “persönlich” oder “privat” immunisierten Glauben jenseits von Bibel und Evangelium, Kirche und Gemeinde, Predigt und Sakrament, Geheimnis und Wunder sind jedoch keine wegweisende Lösung. Insbesondere wenn die Mitgliedschaft in einer Kirche von vielen Bürgern nur noch für den gelegentlichen Gebrauch aufrecht erhalten wird, um die Kirche als ein durch seine Kirchensteuern finanziertes Dienstleistungsunternehmen zwecks Hochzeit, Taufe, Konfirmation, Seelsorge und Beerdigung zu nutzen.

 

Solange die eigene berufliche Karriere und Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder in einer Gewerkschaft, in einem Fußballclub oder Sportverein im eigenen Leben immer Vorrang haben, hat das mit einem verbindlichen christ-lichen Glauben wohl nicht mehr viel zu tun. Die Früchte, an denen wir freilich auch fehlbare Christenmenschen er-kennen, sind nämlich nicht die Errungenschaften einer bürgerlichen Existenz (meine Familie, mein Auto, mein Haus, mein Konto, meine Rente, etc.) so schön es auch sein mag, das zu haben (als hätte man es nicht).

 

Aber Entscheidungen über solche Präferenzen müssen immer Sache des persönlichen Glaubens, des eigenen Ge-wissens und der eigenen menschlichen Entwicklung bleiben, weil sonst ein gefährliches Klima der Heuchelei, der Gesinnungsschnüffelei, der Denunziation und des Tugendterrors entstehen könnte, wie es in fundamentalistischen

und traditionalistischen Sekten weit verbreitet ist. Daher dürfen das evangelische Christen und Christinnen immer

selbst entscheiden, was iedoch nicht nur mehr persönliche Freiheit gewährt, sondern auch mehr eigene Verantwortung verlangt.

 

Der authentische Glaube ist wie die Liebe ein Kind der Freiheit, aber die christliche Freiheit ist ein Kind des Evangeliums und unterscheidet sich daher von der Willkürfreiheit derjenigen, die damit nur allzuoft ihren eigenen Egoismus, Hedo-nismus und Konsumismus kaschieren. Aber wirkliche Selbstliebe (amour de soi) ist ein Kind der übernatürlichen Gnade und der natürlichen Selbstsucht (amour propre) entgegengesetzt. Der Name “Kirche der Freiheit” war dafür vor einigen Jahren gar nicht schlecht gewählt, wenn dabei nur noch verstanden würde, dass die authentische “christliche Freiheit” aus dem Geschenk des Glaubens und damit aus der unverfügbaren Gnade kommt.

 

Die spontane Freiheit der Kinder und die pubertäre Willkürfreiheit von Jugendlichen auf dem Weg der Selbstfindung ist ganz altersgemäß und damit liebenswert. Aber wenn Erwachsene nicht über diese kindlichen und jugendlichen Ein-stellungen hinauswachsen, um von einer ungehemmten Willkürfreiheit zu einer verantwortlichen Freiheit der ethischen Vorsicht und der moralischen Rücksicht zu gelangen, handelt es sich zumindest um einen Mangel an menschlicher Reife, wenn nicht gar um eine ausgewachsene Persönlichkeitsstörung. Persönlichkeitsstörungen können jemand jedoch zu Mobbing im Berufsleben, zu Misshandlung in Ehen und Familien, zu sexueller Gewalt und Missbrauch und zu anderem kriminellen Verhalten motivieren.

 

Aus allzu menschlicher Bequemlichkeit und stressbedingter Anpassung an den Zeitgeist, flüchten sich nicht Wenige in einen allgemeinen und vagen Mystizismus. Die gelegentlichen mystischen Erfahrungen, die alle Menschen aufgrund ihrer Selbsterfahrungen in sakralen Räumen oder in der Natur kennen, bleiben jedoch oft nur psychisch und haben

mit einer authentischen, pneumatischen oder symbolischen Erfahrung des Heiligen Geistes wenig zu tun. Denn diese authentische Erfahrung des Heiligen Geistes gibt es nicht ohne eine persönliche Beziehung zu Gott durch den auf-erstandenen Christus. Dass es um ein solches persönliches Erlebnis geht, müssen sich auch allzu buchstabentreue Bibelfundamentalisten sagen lassen. Aber auch der allgemeine und vage Mystizismus erzeugt oft nicht nur eine innere Leere und Kälte in den Herzen, sondern oft auch bedauerliche Selbsttäuschungen über das eigene Christsein. Das sind die traurige Folgen der Vernachlässigung der Verkündigung des vollen Evangeliums vom auferstandenen Christus.

 

Natürlich fällt ein bekenntnistreuer christlicher Glaube an das Evangelium nicht gerade leicht in einer geradezu glaubensfeindlichen Gesellschaft, die sich über den Glauben der Juden und Muslime ebenso erhebt wie über den Glauben der Christen aller Kirchen und Konfessionen. Und freilich ist und bleibt ein solcher Glaube erst recht eine Zumutung, wenn große und kleine Kirchen dann auch noch in Finanzskandale verwickelt werden, wenn ans Licht kommt, dass es in den Kirchen nicht nur sexuellen Missbrauch gab, sondern dass dieser auch noch nach Kräften verdrängt und vertuscht wurde, wenn bekannte TV-Prediger ihr allzu populäres Gesundheits- und Wohlstands-Evangelium predigen, um dann mit ihren Büchern, Kalendern, Utensilien und humanitären Alibi-Aktivitäten ein lukratives Geschäft zu machen.

 

Wer könnte angesichts solcher eklatanter Missstände nicht nur die massiven Zweifel der meisten Menschen verstehen, sondern auch die angestaute Wut militanter Atheisten, den missionarischen Eifer berühmter Naturwissenschaftler für eine wissenschaftliche Weltanschauung, den nur allzu verständlichen Zorn eifernder Kirchenkritiker, die traurige Ver-zweiflung der Opfer von Missbrauch und sexueller Gewalt und die Selbstgerechtigkeit ausgetretener Kirchenmitglieder? Aber das unverfügbare Geschenk eines authentischen christlichen Glaubens war noch nie leicht zu erhalten und zu bewahren. Denn wie schon Paulus es treffend formulierte, galt der unerwartete Glaube an einen gekreuzigten und auferstandenen Messias den zeichengläubigen Juden als ein “Ärgernis” und den verstandesgläubigen Griechen als eine “Torheit”.

 

Aber das Interesse an einem vagen und allgemeinen Mystizismus ist weder besonders originell noch ganz freiwillig

und selbstbestimmt. Denn er ist aus der geistlichen Notlage unserer wissenschaftlich und technisch geprägten Ge-sellschaften geboren und führt direkt in eine persönliche Vereinsamung oder in eine bloß symbiotische Zweisamkeit. Schon gar nicht taugt er zu einer zuversichtlichen Gründung einer starken Familie mit mehreren Kindern. Vor allem

aber verkennt er die befreiende Kraft des Evangeliums, das sowohl für jeden einzelnen Menschen als auch für Christen in ihren Gemeinden da ist.

 

Denn das Evangelium spielt die Individuen gerade nicht gegen die Gemeinschaft oder die Gemeinschaft gegen die Individuen aus, wie es die säkularen politischen Ideologien tun, die entweder ein individualistisches oder aber ein kollektivistisches Menschenbild propagieren. Zwar gibt es auch kollektivistische Tendenzen in allzu strengen religiösen Sekten aller Religionen und Konfessionen. Aber dieser religiöse Kollektivismus ist dann genau so wenig evangelisch

wie der liberale Individualismus der Atheisten und Skeptiker, denn “evangelisch” heißt zuguterletzt immer noch “dem Evangelium gemäß”.

 

Heidelberg im Juli 2020